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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Der entsetzlichen That folgte eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung. Die Führer der beiden Wagen waren von ihren Sitzen herabgesprungen und liefen rathlos am Ufer hin und her; sie versuchten es gar nicht einmal, eine Hülfe zu bringen, die hier nur mit Aufopferung des eigenen Lebens möglich war. Ella stand auf der Brücke; sie hatte sich nachstürzen wollen, wo sie nicht retten konnte, aber es war bereits eine bessere Hülfe zur Stelle. Die junge Frau sah die Wellen hoch aufspritzen, in denen ihr Liebstes verschwand, sah, wie diese Wellen sich im nächsten Momente auch über dem Haupte ihres Gatten schlossen. Reinhold hatte sich unverzüglich seinem Kinde nachgeworfen, das sich im Sturze von Beatricen losgerissen hatte und das nun in einiger Entfernung auftauchte. Es folgten Minuten einer Qual, gegen die alles zuvor Erduldete doch nur ein Spiel war. Für Ella drängten sich Leben und Tod zusammen in diesen schäumenden, zischenden Wogen, mit denen die beiden Körper rangen, der eine hülflos, fast widerstandlos, der andere sich mächtig emporarbeitend zu dem einen Punkte, den er endlich, endlich erreichte. Der Vater erfaßte sein Kind, riß es an sich und strebte mit ihm vereinigt dem Ufer zu. Jetzt faßte er Fuß auf dem felsigen Grunde; jetzt ergriff er die überhangenden Felszacken, um sich daran zu halten, und nun gewann auch die Mutter Kraft und Bewegung zurück. Sie stürzte den Beiden entgegen. Langsam stieg Reinhold den Abhang empor. Seine Brust keuchte schwer von der furchtbaren Anstrengung; die Arme bluteten, verwundet von dem scharfen Gesteine, an dem er sich gehalten, aber diese Arme umfaßten seinen Knaben, den er seit Jahren zum ersten Male wieder an seine Brust schloß, und halb ohnmächtig zusammenbrechend, legte er das Kind in die Arme der Mutter.




„Also das soll wirklich und unwiderruflich ein Abschiedsbesuch sein?“ fragte der Consul Erlau den Capitain Almbach, der neben ihm saß. „Ihre Abreise kommt ja ganz plötzlich und unerwartet. Was wird Ihr Bruder, was Eleonore dazu sagen? Beide rechneten ganz bestimmt darauf, Sie noch einige Wochen hier zu behalten.“

Auf der sonst so heiteren Stirn Hugo’s lag heute ein Schatten, und in seinen Zügen stand ein fremder, bitterer Ausdruck, als er erwiderte: „Sie werden sich leicht genug in die Trennung finden. Reinhold wird in der steten Nähe von Weib und Kind meine Abwesenheit nicht fühlen, und Ella –“ er brach plötzlich ab. „Lassen Sie es gut sein, Herr Consul! Die Beiden haben viel zu viel mit sich selber und mit ihrem neuerworbenen Glücke zu thun, um nach mir zu fragen.“

„Ja wohl,“ stimmte Erlau bei, „und wer bei dieser Versöhnungsgeschichte am meisten verliert, das bin ich. Jahrelang habe ich Eleonore als mein Kind betrachtet, habe sie und den Kleinen als mein unbestreitbares Eigenthum angesehen und jetzt auf einmal macht der Herr Gemahl seine sogenannten Rechte geltend und nimmt sie mir Beide, ohne daß ich Einspruch dagegen erheben darf. Ich begreife Eleonore nicht, daß sie ihm so ohne Weiteres verziehen hat.“

„Nun, so ohne Weiteres geschah das wohl nicht,“ sagte Hugo ernst. „Er hat Widerstand genug gefunden, und ich glaube kaum, daß er ihn jemals überwunden haben würde ohne jene Katastrophe, die ihnen schließlich Beiden zu Hülfe kam. Er erkaufte sich die Versöhnung mit der Rettung seines Kindes. Ella wäre keine Gattin und keine Mutter gewesen, wenn sie sich auch da noch von ihm abgewendet hätte, als er ihr den Knaben unversehrt in die Arme legte. Der Augenblick sühnte Alles, und Sie wissen ja so gut wie ich, daß die Rettung des Kleinen dem Vater beinahe das Leben gekostet hat.“

„Nun ja, er konnte gar nichts Gescheidteres thun, als nach der Geschichte todkrank zu werden,“ grollte Erlau, der durchaus nicht in sehr versöhnlicher Stimmung zu sein schien. „Das war genug, um Eleonore sofort an seine Seite zu rufen, von der sie dann nicht wieder wegzubringen war, und er ließ sie wohlweislich auch nicht wieder von sich. Man kennt das schon. Gefahr und Angst, Pflege und Zärtlichkeiten ohne Ende! Sie verlangen doch nicht etwa gar, daß ich mich über die Versöhnungsgeschichte freuen soll? Ich wollte, wir hätten die Reise nach Italien unterlassen, dann hätte ich meine Eleonore behalten, und Herr Reinhold hätte sein genial romantisches Künstlerleben hier fortsetzen können. Mir wäre das vollkommen recht gewesen.“

„Sie sind ungerecht,“ sagte Hugo vorwurfsvoll.

„Und Sie verstimmt,“ ergänzte Erlau. „Ich begreife nicht, was mit Ihnen eigentlich vorgegangen ist, Herr Capitain. Ihr Bruder ist außer Gefahr, Ihre Schwägerin die Liebenswürdigkeit selbst; der Kleine hat sich mit vollster Zärtlichkeit an Sie angeschlossen, Ihnen aber scheint der Humor ganz und gar abhanden gekommen zu sein, seit bei uns hier Alles in Versöhnung und Liebe schwimmt. Sie spielen keinem Menschen einen Streich mehr, Sie ärgern Niemanden mehr mit Ihren Neckereien und Einfällen; kaum daß man noch hin und wieder ein Scherzwort von Ihnen hört. Ich fürchte, Ihnen steckt auch irgend etwas im Kopfe oder gar im Herzen.“

Hugo lachte laut, aber ein wenig gezwungen auf:

„Warum nicht gar! Ich halte es nur nicht aus, so lange auf dem festen Lande zu bleiben und meine See zu entbehren. Diese mondenlange Unthätigkeit peinigt mich. Gott sei Dank, daß sie endlich ein Ende nimmt! Morgen früh reise ich, und in wenigen Tagen bin ich wieder draußen auf den Wellen.“

„Nun, dann stieben wir ja recht hübsch nach allen Himmelsrichtungen auseinander,“ meinte der Consul, der noch immer nicht seiner Gereiztheit Herr zu werden vermochte. „Sie segeln nach Westindien, Ihr Bruder und Eleonore wollen gleichfalls fort; ich gehe nach H. zurück – eine allerliebste Einsamkeit, die mich dort zu Hause erwartet! Herr Reinhold hatte zwar die Gnade, mir zu versprechen, daß ich seine Frau und das Kind von Zeit zu Zeit sehen solle. Von Zeit zu Zeit! Als ob mir das genügen könnte, nachdem ich sie jahrelang jede Minute um mich gehabt habe. Freilich jetzt hat ja der Herr Gemahl und Vater darüber zu bestimmen; ich bin überzeugt, er läßt sie keine acht Tage von sich; er ist jetzt gerade so überschwenglich in der Zärtlichkeit, wie er es einst in der Rücksichtslosigkeit war.“

Es hatte fast den Anschein, als ob der Gegenstand des Gespräches dem Capitain peinlich sei, denn er brach es rasch ab, indem er sich erhob und sich von dem Consul verabschiedete, zwar herzlich, aber doch etwas kurz und hastig. Erlau sah ihn sichtlich ungern scheiden; denn so groß das Vorurtheil war, das er noch immer gegen Reinhold hegte, so entschieden war er für Hugo eingenommen, und wäre dieser der reuig Zurückkehrende gewesen, der Consul hätte die Versöhnung wohl mit günstigerem Auge angesehen, als er es jetzt that, wo jedes Gerechtigkeitsgefühl in dem Schmerze über die bevorstehende Trennung von seinem Lieblinge unterging. Es tröstete den alten Herrn nur wenig, daß er die wiedergewonnene Gesundheit mit nach Hause nahm; sein Haus kam ihm jetzt unendlich verödet vor, und er seufzte tief auf, als die Thür sich hinter seinem Gaste geschlossen hatte.

Hugo kehrte inzwischen in die Wohnung seines Bruders zurück, die er noch immer theilte. Sein Zimmer befand sich in Folge der Vorbereitungen zur Abreise bereits in der größten Unordnung. Er hatte Jonas befohlen, einzupacken und Alles für morgen früh vorzubereiten, und der Matrose war dieser Weisung auch zum Theil nachgekommen, denn die Koffer standen geöffnet auf dem Fußboden, und die Reise-Effecten lagen auf Tischen und Stühlen umher. Vom Packen aber schien vorläufig keine Rede zu sein, denn Jonas saß noch in vollster Gemüthsruhe auf dem Deckel des großen Reisekoffers und neben ihm die „kleine Annunziata“, die er sich vermuthlich zur Hülfe bei dem schwierigen Geschäft herbeigeholt hatte. Die Unterhaltung zwischen den Beiden war trotz der noch immer sehr mangelhaften deutschen Sprachkenntnisse der jungen Italienerin in vollem Gange, und dabei hatte Jonas ganz ungenirt den Arm um sie gelegt und war soeben im Begriff, ihr einen Kuß zu rauben, der nicht der erste zu sein schien und auch wohl nicht der letzte gewesen wäre, wenn das Erscheinen Hugo’s nicht der ferneren Vertraulichkeit ein Ende gemacht hätte.

Das Pärchen fuhr bei dem unvermutheten Oeffnen der Thür erschreckt in die Höhe. Annunziata faßte sich zuerst. Sie flüchtete mit einem leichten Aufschrei an dem Capitain vorüber in das Vorgemach, wo sie verschwand, und überließ ihrem Gefährten die Aufklärung der Situation. Jonas aber stand vor Schrecken starr und steif wie eine Bildsäule und sah, ohne sich zu rühren, seinen Herrn an, der jetzt vollends eintrat und die Thür hinter sich schloß.

„Heißt das die Koffer packen?“ fragte er. „Also so

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