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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Wir verstehen darunter die Theologen. Von ihnen kommt der eigentliche Widerstand, was wir ganz begreiflich finden. Die Theologie arbeitet wesentlich nach der Richtung des Gemüthes hin, während die Anregung zur Feuerbestattung vom Verstande ausging. Das Gemüth haftet am Alten, Hergebrachten, an dem durch Gewohnheit lieb Gewordenen. Der Verstand fragt zunächst nach dem Nutzen, nach dem greifbaren Vortheile und Gewinne. Wie oft haben nicht beide Richtungen im Laufe der Zeiten sich bekämpft! Die Geschichte lehrt jedoch, daß meist der Verstand schließlich die Oberhand behielt. Zuweilen mittelst schnöder Waffengewalt, häufiger durch den Erfolg, durch die Thatsachen. Letzteres wird auch bei der „Feuerbestattung“ der Fall sein. Sobald die Herren Theologen sich überzeugen werden, daß die Feuerbestattung ein wirklicher Fortschritt im Interesse der Menschheit, der Humanität, der Pietät, der Gesundheitspflege ist, daß durch die Feuerbestattung alljährlich Gesundheit und Leben vieler Hunderte und Tausende behütet und bewahrt wird, ebenso bald wird sie auch ihr Pflichtgefühl nöthigen, die Neigung für alte Gewohnheit zu bekämpfen und für den neuen Gebrauch zu wirken. Sie werden ihn einführen und weihen helfen. Das müßte ja ein elender Baalspfaffe und kein christlicher Prediger sein, der, obgleich er die wohlthätigen Folgen der Feuerbestattung erkannt hat, gegen dieselbe ankämpfte.

Nein, ich habe besseres Zutrauen zu unseren Theologen. Sie müssen die Freunde der Feuerbestattung werden. Sie „müssen“? Weshalb? Weil, wie Lessing sagt, der Mensch das thun muß, was er für gut und recht erkannt hat.

Ich kann es mir übrigens wohl denken, daß ein großer Theil der praktischen Theologen von vornherein gegen die Feuerbestattung mit sehr ungünstigem Vorurtheile gestimmt ist. Die Zeitläufe sind ganz danach. Die „Taufe“ wird durch das Civilstandregister zu einer bloßen Form; die „Schule“, welche bisher (in Folge der Entwickelung unserer Schulen aus der mittelalterlichen Mönchsschule) eine ganz unbestrittene Domaine der Geistlichen war, soll confessionslos werden; die „Trauung“ wird durch die Civilehe in das Belieben der Einzelnen gestellt. Nun kommt auch noch eine Aenderung beim „Begräbnisse“! Kein Wunder, daß gar Viele unter den Herren Theologen sich dadurch unheimlich berührt fühlen.

Am deutlichsten fanden wir dies ausgeprägt in einem Aufsatze der „Allgemeinen Nachrichten der Brüdergemeinde“, welcher im „Württemberger Kirchen- und Schulblatte“ (1874, Nr. 23) des abermaligen Abdruckes werth gehalten wird. Der (ungenannte) Verfasser erkennt die Vortheile der Leichenverbrennung an, ist aber trotzdem gegen das Verfahren; zwar habe es mit Glauben oder Unglauben gar nichts zu thun, sondern sei „an sich etwas religiös ganz Gleichgültiges“, allein heutzutage müsse man gegen Alles „Stellung nehmen“, und da sei die Leichenverbrennung als ein „Symptom unserer radicalen Zeitströmung“ und „als eine in mehrfachem Sinne pietätslose Emancipation von einer specifisch christlichen Sitte zu beurtheilen“. Dies heißt in einfachen Worten: Die Leichenverbrennung geht mich zwar nichts an, sie ist auch nützlich und nicht unreligiös; da sie aber etwas Neues ist und möglicher Weise unser Ansehen beeinträchtigen könnte, so müssen wir Priester sie verurtheilen.

Ehe Leute von dem Schlage, wie der Herr Verfasser dieses Aufsatzes, zu Freunden werden, muß natürlich eine allgemeine Anerkennung schon vorausgegangen sein. Dann versteht sich die ihrige von selbst. Bis dahin aber helfen Vernunftgründe nicht, sondern sie sagen mit dem Patriarchen des Nathan: „Thut nichts, der Jude wird verbrannt“ – oder in diesem Falle „begraben“.

Indessen, es giebt auch wieder Starrsinnige, welche dem Neuen nicht deshalb feindlich bleiben, weil es „neu“ ist. Ich will von den Gegnern, welche ich für vorurtheilslos genug erachte, um künftige Freunde des Verfassers zu werden, nur Einen herausgreifen.

Im Juli dieses Jahres erwähnte der Hofprediger Dr. Rüling in Dresden in einer Predigt der Feuerbestattung und fand sie wenig ansprechend, weil sie eine Nachahmung des Heidenthums sei. Freilich wäre zu entgegnen, daß die Verbesserung nicht mehr noch minder „heidnisch“ sei als das Osterfest, die Pfingsten u. s. w. Ferner ist unser „Christbaum“ einfach eine Nachahmung heidnischen Gebrauches; der „Knecht Ruprecht“ vertritt den Jul-Klapp der alten Heiden. Sogar das christliche Kreuz war schon vor Jahrtausenden bei den Heiden ein religiöses Symbol. Und der Grabhügel unserer Grabstätten – ist er etwa kein heidnischer Gebrauch? Wenn wir nicht mehr das Heidenthum nachahmen wollen, dürfen wir nicht mehr mit Messer und Löffel essen, nicht mehr Stiefel und Beinkleider, noch Ringe oder Mäntel tragen. Mit Ausnahme der Stahlfedern und der Streichhölzchen wird wenig übrig bleiben von unseren täglichen Lebensbedürfnissen, das nicht eine „Nachahmung des Heidenthums“ wäre.

Daß ferner beim Verbrennen die Menschenhände einen „unberufenen Eingriff in den von Gott geordneten langsamen Proceß der Auflösung des menschlichen Leibes“ ausführen, bestreite ich so lange, bis mir nachgewiesen wird, daß „Gott“ eine „langsame“ Auflösung „angeordnet“ habe. Das sind zwei Punkte, deren Nachweis doch etwas schwer fallen dürfte. Wir wollen nur einen derselben herausgreifen. – Was heißt denn „langsame“ Auflösung? Ist sie in Indien langsam, wo die Leiche binnen drei Tagen jauchig zerfließt? Oder bei den Huancha, wo der todte Leib an sandigen Südhängen ausdörrt und sich für Jahrzehnte dann erhält? Oder in den Kalkgrüften zu Bonn, Prag, Wien, wo die modernden Leiber in Jahrhunderten sich wenig verändert haben? Oder in dem nördlichen Sibirien, wo nach Jahrtausenden im Eise noch Fleisch, Haar und Speisereste der mikroskopischen Untersuchung zugänglich sind? Ist es dieser „Langsamkeit“ gegenüber gestattet, die Leichen in lockere Erde zu betten, wo sie schneller verwesen? Oder ist es Pflicht der Christen, die Leichen in Thon, Moor und Kalkgruben unterzubringen? Und wenn dies nicht – wenn sogar die lockere Erde gestattet ist – aus welchen Gründen dann die noch schnellere Verwesung im Feuer verpönen? Wo liegt die christliche Grenze der „Langsamkeit“?

Die „Kränkung des menschlichen Zartgefühles“ kann bei der Verbrennung nur für denjenigen vorhanden sein, der die bereits erwähnten sehr wenig mit dem „Zartgefühle“ zu vereinbarenden Einwirkungen der Fäulniß nicht kennt, und auch die „völlige Umwälzung unserer kirchlichen Sprache“ zeigt sich bei näherer Betrachtung als nicht vorhanden.

„Wie sie so sanft ruh’n, alle die Seligen!“ kann kein Wahrheitsliebender heute mit gutem Gewissen aussprechen. Sie ruhen ja nicht sanft, wenigstens nicht auf lange Zeit, sondern erwarten in ihrem Miethgrabe nur die Stunde, in welcher sie wiederum höchst unsanft herausgeworfen werden, um dem Nachfolger Platz zu machen. – Ein „Gottesacker“ ist auch das Columbarium; denn hier handelt es sich nur um einen bildlichen Ausdruck. Dem „Schooße der Erde“ kann man auch die Urne anvertrauen.

Aber wenn dies Alles auch nicht wäre, der Gewinn des Besseren und Vernünftigen muß den Sieg davontragen über die Vorliebe für althergebrachten Sprachgebrauch, oder – man klammert sich an das Alte an, weil es „alt“ ist, und verneint das Neue, weil es „neu“ ist. Das wird kein Besonnener wollen, und deshalb sehen wir in einem solchen Gegner einen künftigen Freund.




Aus amerikanischen Gerichtssälen.


4. Eine Versicherungsgeschichte.


Im südöstlichen Theile Pennsylvaniens, in einer Gegend, wo man von dem riesenhaften Aufschwunge der Vereinigten Staaten wenig oder gar nichts merkt, liegt das Städtchen Westchester. Es sah vor vielen Jahren nicht anders aus als heute; seine Einwohnerzahl nimmt weder zu noch ab, und nach Verlauf von fünfzig oder hundert Jahren wird dieselbe kaum größer sein als jetzt. In manchen der östlichen Staaten, von denen sich der Strom der Einwanderung abgelenkt und den westlicher gelegenen zugewendet, findet man gar häufig kleinere Städte, die in einen traumhaften Schlummer versenkt zu sein scheinen. Im Winter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_610.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)