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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Erhole Dich, Ella!“ sagte der Herr, indem er die Dame in den Schatten der Felswand geleitete. „Die Anstrengung war zu groß für Dich; warum bestandest Du auch darauf, den Wagen zu verlassen?!“

Die junge Frau hielt den starren trostlosen Blick noch immer auf die Bergstraße gerichtet, die sich von der andern Seite in das Thal hinabsenkte, und deren Windungen man zum Theil übersehen konnte.

„Wir waren doch immerhin eine Viertelstunde eher auf der Höhe,“ entgegnete sie matt. „Ich wollte den Weg überblicken, vielleicht schon – den Wagen entdecken.“

Reinhold’s Blick verfolgte dieselbe Richtung, in der gleichwohl nichts zu entdecken war als zwei Männergestalten, dem Anscheine nach Landleute, die, rüstig berganwärts steigend, bald in den Biegungen der Straße verschwanden, bald wieder darin auftauchten.

„So nahe können wir ihnen wohl noch nicht sein,“ sagte er beruhigend, „obgleich wir seit gestern Abend fast geflogen sind. Du siehst wenigstens, daß wir der rechten Spur folgen. Beatrice ist überall gesehen worden und das Kind an ihrer Seite. Wir müssen sie einholen.“

„Und wenn es geschieht – was dann?“ fragte Ella tonlos. „Unser Knabe ist ja schutzlos in ihren Händen. Gott weiß, welche Pläne sie mit ihm verfolgt.“

Reinhold schüttelte den Kopf. „Pläne? Beatrice handelt nie nach Plan oder Berechnung. Der Impuls des Augenblicks allein entscheidet bei ihr Alles. Der Gedanke an die Rache ist in ihr aufgeblitzt, und blitzschnell hat sie ihn auch vollführt, blitzschnell sich mit ihrem Raube geflüchtet. Wohin? Zu welchem Zwecke? Das ist ihr vielleicht selbst nicht einmal klar, und danach fragt sie auch im Augenblicke nicht. Sie hat Dich und mich bis in’s innerste Herz treffen wollen, und das ist ihr gelungen; weiter wollte sie ja nichts.“

Er sprach mit tiefer Bitterkeit, aber doch mit vollster Bestimmtheit. Sie standen Beide allein auf der Höhe des Passes; der Wagen befand sich noch tief unter ihnen und verschwand soeben in der letzten Biegung des Weges. Das Gebirge hatte hier einen schroffen, wilden Charakter; fast nackt stiegen die starren Felsen empor, bald in mächtigen Gruppen, bald wild zerklüftet und zerrissen. Nur die Aloë wurzelte in den Spalten des gelbgrauen Gesteins, und hin und wieder verstreute ein Feigenbaum seinen dürftigen Schatten. Drüben an der andern Seite des Thales hing in schwindelnder Höhe ein Gemäuer an der Bergwand, ein Schloß oder Kloster, grau wie das Gestein selbst und in der Entfernung kaum von diesem zu unterscheiden. Weiter niederwärts hatte sich am Rande einer Schlucht ein Bergstädtchen eingenistet, das, auf und in den Fels hineingebaut, fast einen Theil desselben zu bilden schien, und dessen ödes verfallenes Aussehen mit der Einsamkeit ringsum harmonirte. Tief unten wälzte sich der breite reißende Strom hin, fast die ganze Weite des Thales einnehmend, sodaß kaum Raum genug für die Straße an seiner Seite blieb. Ueber der ganzen Umgebung aber lag das heiße Sonnenlicht eines südlichen Herbsttages, der an Gluth dem nordischen Hochsommertage nicht das Geringste nachgiebt; obgleich die Sonne längst ihre Mittagshöhe verlassen hatte, flimmerte es doch noch heiß in der Luft; grell und scharf beleuchtet hob sich jeder einzelne Gegenstand, fast schmerzend für das Auge, hervor, und das erhitzte Gestein brannte förmlich unter den sengenden Strahlen, denen es unaufhörlich ausgesetzt war.

„Es wäre eine Thorheit, dem Wagen auch nur noch einen Schritt vorauszugehen,“ sagte Reinhold. „Bei der Fahrt bergabwärts überholt er uns in den nächsten Minuten. Wir haben ja jetzt den vollen Ueberblick.“

Ella widersprach nicht; ihr Antlitz trug deutlich genug den Ausdruck der höchsten körperlichen und geistigen Erschöpfung. Diese zwanzigstündige ruhelose Fahrt und dazu die Todesangst im Innern, die immer erneute qualvolle Aufregung, wenn die gesuchte Spur jetzt auftauchte, jetzt wieder verschwand – das war zu viel für das Herz einer Mutter und die Kraft einer Frau. Sie ließ sich auf ein Felsstück nieder, lehnte stumm den Kopf an die Bergwand und schloß die Augen.

Ihr Gatte stand neben ihr und blickte schweigend nieder auf das schöne blasse Antlitz, das in seiner tödtlichen Erschöpfung fast beängstigend erschien. Die scharfen Kanten des Gesteins gruben sich tief in die weiße Stirn und ließen rothe Ränder dort zurück. Reinhold schob langsam seinen Arm zwischen den Fels und die blonden Flechten der jungen Frau; sie schien es nicht zu fühlen, und ermuthigt dadurch, legte er den Arm vollends um sie und versuchte, ihr an seiner Schulter eine bessere Stütze zu geben.

Jetzt zuckte Ella leise zusammen und schlug das Auge auf; sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich ihm entziehen, aber sein Blick entwaffnete sie, dieser Blick, der mit so schmerzlicher angstvoller Zärtlichkeit auf ihr ruhte; sie sah, er zitterte in diesem Augenblicke nicht weniger um sie, als er um sein Kind zitterte. Sie ließ den Kopf wieder zurücksinken und verharrte regungslos in seinen Armen.

Er beugte sich tief über sie. „Ich fürchte, Eleonore,“ sagte er gepreßt, „Du hast Deiner Kraft allzu viel zugetraut; Du brichst zusammen.“

Ella schüttelte verneinend das Haupt. „Wenn ich meinen Knaben wieder habe, dann vielleicht. Eher nicht.“

„Du wirst ihn zurückerhalten,“ sagte Reinhold energisch. „Wie? um welchen Preis? – das weiß ich freilich noch nicht, aber ich weiß, wie Beatrice zu meistern ist, wenn der Dämon sich in ihr regt. Habe ich ihr doch oft genug gegenübergestanden in Stunden, wo vielleicht jeder Andere vor ihr gezittert hätte, und habe meinen Willen zu erzwingen gewußt. Noch einmal, zum letzten Male werde ich das versuchen, und sollten sie und ich die Opfer werden.“

„Du glaubst an eine Gefahr, auch für Dich?“ Es klang wie bebende Angst aus der Stimme der jungen Frau.

„Nicht, wenn ich ihr allein gegenübertrete, nur wenn Du ihr nahst. Versprich mir, daß Du auf der letzten Station zurückbleiben, daß Du Dich nicht zeigen willst, wenn wir sie erreichen! Bedenke, sie hat in dem Kinde einen Schild gegen jeden Angriff, jede Gewalt unsererseits, und es steht Alles auf dem Spiele, wenn sie Dich an meiner Seite erblickt.“

„Haßt sie mich denn so sehr?“ fragte Ella befremdet. „Ich reizte sie, das ist wahr, aber Du warst es doch, der sie am tiefsten beleidigte.“

„Ich?“ wiederholte Reinhold. „Du kennst Beatrice nicht. Wenn ich jetzt vor sie hinträte als Reuiger, als Zurückkehrender, so wäre es vorbei mit ihrem Haß und ihrer Rache. Ein einziger Schwur, daß ich und mein Weib getrennt sind und es bleiben, daß ich jeden Gedanken an Wiedervereinigung aufgebe, und sie giebt Dir das Kind zurück, ohne Kampf, ohne Widerstand. Wenn ich das könnte, wäre die Gefahr zu Ende.“

Ella’s Auge suchte den Boden; sie wagte es nicht, aufzublicken, als sie kaum hörbar fragte: „Und kannst Du denn das nicht?“

Sein Auge flammte auf; er ließ den Arm von ihrer Schulter herabsinken und trat zurück.

„Nein, Eleonore, das kann ich nicht, und das werde ich nicht, denn es wäre Meineid. So wenig ich je zurückkehre in die Bande, von denen ich längst fühlte, daß sie mich entwürdigten, ehe ich Dich wiedersah, so wenig gebe ich eine Hoffnung auf, die mir mehr ist als das Leben. O, weiche doch nicht so weit vor mir zurück! Ich weiß ja, daß ich Dir nicht mit einer Empfindung nahen darf, zu der ich das Recht verwirkt habe, aber mein Fühlen kannst Du mir doch nicht vorschreiben, und wenn Du bisher nicht sahest, nicht sehen wolltest, so muß der glühende Haß Beatricens gegen Dich, und nur gegen Dich allein, Dir doch zeigen, wie sehr Du – gerächt bist.“

Die junge Frau machte eine heftig abwehrende Bewegung. „O mein Gott, wie kannst Du in dieser Stunde –“

„Es ist vielleicht die einzige, wo Du mich nicht zurückstößt,“ unterbrach sie Reinhold. „Darf ich in der Stunde, wo wir Beide um das Leben unseres Kindes zittern, seiner Mutter nicht sagen, was sie mir geworden ist? Schon damals, als ich den Boden Italiens betrat, lag es auf mir wie eine Ahnung dessen, was ich verloren hatte; ich konnte der neu errungenen Freiheit, der endlich erreichten Künstlerlaufbahn nicht froh werden, und je reicher und glänzender sich mein Leben nach außen gestaltete, je tiefer regte sich das Heimweh nach einer Heimath, die ich doch nie besessen hatte. Du kennst es freilich nicht, dieses dumpfe Weh, das nicht schweigen will mitten im Rausche der Leidenschaft, im Jubel des Triumphes und in der

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