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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

welches sonderbar ist, sich Dumme und Kluge, Ernsthafte und Lustige befinden. Sie ist tugendhaft, fromm und fleißig, geschickt in allen Frauenzimmerarbeiten.“

Goethe lernte Lotte, wie er uns selbst in „Dichtung und Wahrheit“ erzählt, auf einer Fahrt über Land kennen. Es war am 9. Juni, als er in Gesellschaft von Bekannten nach Volpertshausen, einem etwa anderthalb Stunden von Wetzlar entfernten, jenseits des Stoppelberges gelegenen Orte, zu einem dort arrangirten Balle fuhr. Lotte war unter der Gesellschaft. Das leicht entzündliche Gemüth des jungen Dichters fühlte sich von der reinen Weiblichkeit und milden Schönheit des damals neunzehnjährigen Mädchens unwiderstehlich angezogen, und Lotte brachte dem schnell gewonnenen Freunde eine warme und rückhaltlose Bewunderung seines schönen Herzens und reichbegabten Geistes entgegen. So entspann sich denn von jenem Abende in Volpertshausen an zwischen Lotte, Kestner und Goethe eines jener Freundschaftsbündnisse, wie nur die schwärmerische und überschwängliche Gefühlsrichtung des vorigen Jahrhunderts es hervorbringen konnte, ein Bündniß, welches vor dem Forum modernen Empfindens kaum noch Verständniß finden würde. Es berührt in der That sonderbar, wenn wir lesen, daß, während der Bräutigam Kestner durch Gesandtschaftsgeschäfte vielfach in Anspruch genommen war, Goethe der stete Gesellschafter der Braut war, mit der er in der ungebundensten Weise verkehrte; er betrachtete sich als ein Mitglied der Familie Buff, begleitete Lottchen überall hin und war um sie im Hause wie im Garten, auf Spaziergängen wie auf Ausflügen.

Er hatte längst, schon aus Freundschaft zu Kestner, alle Ansprüche auf Lottens Besitz aufgegeben, aber es ist begreiflich, daß es bei fortgesetztem Verkehr mit der Freundin dennoch der Aufbietung seiner ganzen Kraft und aller ihm zu Gebote stehenden Philosophie bedurfte, um seine wachsende Neigung zu ihr zu bezwingen. „Seine Ruhe litt sehr dabei,“ schreibt Kestner; „es gab mancherlei merkwürdige Scenen, wobei Lottchen bei mir gewann, und er mir als Freund auch werther werden mußte. – Meistens dauerte er mich, und es entstanden bei mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich möchte nicht im Stande sein, Lottchen so glücklich zu machen als er; auf der andern aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letzteres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal die Ahnung von derartigen Betrachtungen bemerken können.“

In ihrer ganzen Kraft und Tiefe dürfte Goethe seiner lebhaften Neigung zu Lottchen erst gegen das Ende des Julimonates inne geworden sein, wo die Vermählung der Freundin mit Kestner in nahe Aussicht genommen wurde. Immer mehr von den Gefühlen wachsender Leidenschaft für die Braut seines Freundes bewegt, dabei dessen Charakter- und Gemüthseigenschaften immer höher achtend und schätzend, von der sittlichen Haltlosigkeit seines Verhältnisses zu Beiden sich aber täglich klarer überzeugend und sich immer entschiedener und bestimmter als ein gefährliches Element zwischen diesen beiden geliebten Menschen fühlend, entschloß sich Goethe endlich, Wetzlar heimlich zu verlassen, und führte diesen Entschluß in Begleitung seines Freundes, des Herrn von Born, an einem Septembermorgen 1772 aus, nachdem er noch am Abend zuvor im Buff’schen Hause mit Kestner und Lottchen zufällig ein merkwürdiges, in jener Stunde doppelt bezeichnendes Gespräch vom Zustande nach diesem Leben, vom Scheiden und Wiedersehen geführt.

Während nun Goethe in Frankfurt im elterlichen Hause sein leidenschaftlich erregtes Gemüth durch dichterische und wissenschaftliche Arbeiten zu besänftigen suchte und die ersten Anläufe nahm zur poetischen (anfangs dramatischen) Gestaltung seiner Wetzlarer Herzenserlebnisse, überraschte ihn Kestner mit einer Nachricht, welche auf den Plan und die Ausführung des bald darauf in Angriff genommenen „Werther“ von wesentlichem Einflusse war. Kestner machte ihm nämlich, wie bekannt, die erschütternde Mittheilung von dem in der Nacht vom 29. auf den 30. October zu Wetzlar geschehenen Selbstmorde des jungen Jerusalem (er war ein Sohn des als Theolog und Kanzelredner berühmten Abtes Jerusalem zu Riddagshausen bei Braunschweig), eines durch seine philosophischen Arbeiten allgemein geachteten, besonders von Lessing geschätzten jungen Gelehrten, zu dem Goethe seit einer Reihe von Jahren – er hatte ihn wohl schon in Leipzig kennen gelernt – in mehr oder weniger engen Beziehungen gestanden und den er in Wetzlar als Beamten an der braunschweigischen Gesandtschaft wiedergefunden hatte.

Das Motiv zu der That Jerusalem’s ist ohne Frage in erster Linie in seiner unglücklichen Liebe zu der Gattin des pfälzischen Geheimsecretärs von Herdt zu suchen, und aus der Aehnlichkeit der Situation, in welcher sich einerseits Goethe zu dem Kestner’schen Paar, andererseits Jerusalem zu den Herdt’schen Gatten befand, dürfte sich auch die warme Sympathie erklären, welche der junge Dichter den Schicksalen des unglücklichen Jerusalem entgegenbrachte.

Einige Tage vor der That hatte, wie Kestner berichtet, ein Festessen (des Wetzlarer Ritterordens?) stattgefunden, wozu Jeder einen Gast mitbringen durfte. Jerusalem führte den Secretär Herdt in die Gesellschaft ein und zeigte sich bei dieser Gelegenheit außerordentlich munter. Nach dem Essen ging er mit Herdt zu dessen Frau. Dieser ließ, da ihn Gesandtschaftspflichten abriefen, die Zwei beim Kaffee allein.

„Nachdem der Mann wiedergekommen,“ schreibt Kestner an Goethe, „bemerkt er bei seiner Frau eine außerordentliche Ernsthaftigkeit und bei Jerusalem eine Stille, welche beide ihm sonderbar und bedenklich erschienen. Jerusalem geht weg, und die Frau hält sich verbunden, dem Manne zu erzählen, was in seiner Abwesenheit vorgegangen. Jerusalem habe sich vor ihr auf die Kniee geworfen und ihr eine förmliche Liebeserklärung thun wollen. Sie sei natürlicher Weise darüber aufgebracht und hätte ihm viele Vorwürfe gemacht. Sie verlangte nun, daß ihr Mann dem Jerusalem das Haus verbieten solle; denn sie könne und wolle nichts weiter von ihm hören und sehen“

Herdt sendete am andern Morgen einen Brief an Jerusalem, in welchem er ihm den Besuch seines Hauses untersagte und sich weitere Correspondenzen verbat, worauf Jerusalem an Kestner einen Zettel schickte mit den Worten: „Dürfte ich Euer Wohlgeboren wohl zu einer vorhabenden Reise um Ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?“ Ahnungslos sendete ihm Kestner die gewünschten Waffen – in der Nacht machte Jerusalem seinem Leben ein Ende.

Ueber die letzten Stunden des Unglücklichen schreibt Kestner weiter an Goethe: „Abends vor neun Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf morgen früh sechs Uhr Alles zurecht machen, läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. – Da Jerusalem nun allein war, scheint er Alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. – Er hat zwei Briefe, einen an seine Verwandten, den andern an Herdt, geschrieben. Sie haben auf dem Schreibtische gelegen. In dem einen soll er Herdt um Verzeihung gebeten haben, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestört und unter diesem theuren Paare Uneinigkeit gestiftet. Anfangs sei die Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen; in der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß geben zu dürfen. Der drei Blätter umfassende Brief soll mit den Worten geschlossen haben: ‚Um ein Uhr. In jenem Leben sehen wir uns wieder.‘ – Etwa gegen ein Uhr hat er sich dann über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen. Man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat den Schuß gehört. Er war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Rocke mit gelber Weste. – Morgens vor sechs Uhr geht der Bediente zu seinem Herrn in’s Zimmer, ihn zu wecken; das Licht war ausgebrannt; es war fast dunkel; er sieht Jerusalem auf der Erde liegen, wird die Pistolen und auch Blut gewahr, ruft: ‚Mein Gott, Herr Assessor, was haben Sie angefangen?‘ Er läuft zu Medicis und Wundärzten. Sie kommen; es war aber keine Rettung, weil das Gehirn lädirt, auch herausgetreten gewesen. – Gegen zwölf Uhr starb er. Abends dreiviertel elf Uhr ward er auf dem gewöhnlichen Friedhofe begraben – in der Stille mit zwölf Laternen und einigen Begleitern; Barbiergesellen haben ihn getragen, das Kreuz ward vorausgetragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet.“

Diesen Bericht Kestner’s, den wir nur im Auszuge mitgetheilt haben, hat Goethe bekanntlich fast wörtlich mit einigen Hinzufügungen in seinen Roman aufgenommen, in welchem er, wie Jedermann weiß, die Geschichte seiner eigenen Herzenskämpfe mit dem Schicksale Jerusalem’s kunstvoll verwob, während er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_598.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)