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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

und fanatische Geistliche, ohne Sinn für die althergebrachten Sitten und Gebräuche unserer Voreltern, manche originelle Spur aus der altersgrauen Vorzeit verwischt.

Fort mit den Hexen, fort mit der trüben Geistesnacht, die besonders über den katholische Dörfern des Landes lagert! Licht, mehr Licht! Aber mit Wahrung der alten guten Sitten und frohen Feste und frei von dem traurigen Gefolge der Alles verflachenden Mode, die ihre Zofen, Prunksucht, fieberhafte Genußsucht und in Folge dessen nicht geringe Entsittlichung, überall mit sich führt!




Pariser Bilder und Geschichten.
Von Ludwig Kalisch
Bei Béranger.


Wenn die Gartenlaube auch schon früher ein Lebensbild Béranger’s gebracht hat, so war doch die Persönlichkeit des vom französischen Volke so hochgefeierten Liedersängers eine so interessante und bedeutsame, daß sicher auch jetzt noch charakteristische Züge aus dem Leben des Dichters einer freundlichen Aufnahme sicher sein können. Erlauben Sie mir eine meiner Erinnerungen, die besonders scharfe Schlaglichter auf den Charakter des unvergeßlichen, auch in Deutschland hochgeehrten Mannes wirft, Ihren Lesern heute mitzutheilen.

Béranger liebte die Zurückgezogenheit über Alles; ja, in seinen letzten Lebensjahren versteckte er sich förmlich vor der Welt und war nur für die paar Freunde sichtbar, die ihm der Tod noch nicht entrissen. Ich würde daher nie daran gedacht haben, mich ihm zu nähern, hätte sich mir nicht eine ganz besondere Veranlassung dazu geboten. Ich wurde nämlich beauftragt, ihm eine neue deutsche Uebersetzung seiner Lieder persönlich zuzustellen. Und so machte ich mich denn an einem heitern Maitage 1855 auf den Weg, nachdem es mir, nicht ohne die größte Mühe, gelungen war, seine Wohnung zu erfahren.

Béranger wohnte damals in der Nähe des Tempels und zwar in einem klosterartigen Hause. Drei steile Treppen mußte man ersteigen und dann noch einen unendlich langen, dunkeln Corridor durchmessen, bis man an seine Zimmer gelangte. Ich zog die Schelle. Eine kleine Matrone in einer altfränkischen turbanartigen Haube öffnete mir die Thür und hieß mich eintreten. Diese alte Dame war keine andere als die vielbesungene Lisette.

Ich fand Béranger beim Frühstück.

„Mein Herr,“ sagte er, nachdem er einige Augenblicke den Band durchblättert, den ich ihm übergeben, „es ist mir in der That sehr schmeichelhaft, daß Ihre Landsleute meine armen Lieder so wohlwollend aufnehmen. Leider aber verstehe ich nicht deutsch; ich kann also nicht sehen, wie sich dieselben in Ihrer gewaltigen Sprache ausnehmen. Ich verstehe überhaupt keine fremde Sprache,“ setzte er nach einer Pause hinzu. „Ich habe nie Mittel genug gehabt, um mich mit dem Studium fremder Sprachen zu befassen. Auch hatte ich hinlängliche Arbeit mit der meinigen.“

Ich fragte ihn, ob er niemals in Deutschland gewesen.

„Ich bin nie gereist,“ antwortete er. „Ich bin niemals weiter gekommen als bis nach Tours und Peronne. Es hat mir stets an Geld gefehlt, um mit Bequemlichkeit reisen zu können; und Unbequemlichkeit auf Reisen zu suchen, war eben meine Sache nicht.“

„Ich weiß,“ fuhr er dann fort, „daß Ihre Landsleute der Literatur des Auslandes viel Aufmerksamkeit widmen, und wie ich gehört, sind meine Dichtungen häufig, besonders aber von Chamisso, mit großer Meisterschaft übersetzt worden. Chamisso schickte mir seine deutsche Uebersetzung meiner Chansons, begleitet von einem sehr liebenswürdigen französischen Briefe, in welchem er mich bat, ihm die Schnitzer in seiner Muttersprache nicht übel zu nehmen. Das war aber wohl nicht so ernst gemeint; denn sein Brief war in vortrefflichem Französisch geschrieben.“

Unterdessen hatte mir Béranger einen Stuhl neben seinen Fauteuil gerückt, und während er sein frugales Frühstück fortsetzte, sagte er mir auf einige meiner Bemerkungen über seine Lieder: „Ich war in meiner Jugend nicht ohne Ehrgeiz. Ich wollte etwas recht Großes werden und glaubte, ich könnte als Lustspieldichter herrliche Lorbeeren ernten. Ich blickte natürlich dabei auf Molière, als auf das beste Vorbild. Allein je mehr ich arbeitete, desto riesiger schien mir der Dichter des Tartuffe, desto winziger schien ich mir selbst, und ich gewann endlich die feste Ueberzeugung, daß mir im Dienste der Thalia keine üppigen Kränze blühen werden. Ich wollte aber meine Kräfte nicht anstrengen, um eine Niederlage zu erleben; ich widmete mich also dem Chanson. Das ist ein kleines Genre, dem ich mich gewachsen fühlte. Mein Erfolg war größer, als ich erwartet, viel größer, als ich verdient habe.“

Als ich ihn im Laufe der Unterhaltung fragte, warum er nicht Mitglied der französischen Akademie sei, antwortete er: „Ich weiß, daß man der Akademie oft vorgeworfen, mich nicht unter ihren Mitgliedern zu besitzen. Man thut aber in dieser Beziehung der Akademie großes Unrecht; denn sie hat mir nicht nur einmal, sie hat mir zu wiederholten Malen den von Vielen so eifrig erstrebten Sessel angeboten. Ja, sie hat mir sogar zu verstehen gegeben, daß ich sie verbinden würde, wenn ich mich vorschlagen ließe, da sie sonst den Platz einem Andern würde einräumen müssen, der ihr bei Weitem nicht so angenehm wäre. Ich lehnte jedoch entschieden ab, und zwar nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Grundsatz. Ich wollte nämlich nicht mit meinen leichten Liedern in die eigentliche Literatur eintreten. Meine hochgeschürzte Muse hätte sich in der That unter der Kuppel des Instituts curios genug ausgenommen. Wie dem aber sei, ich habe mich persönlich über die Akademie durchaus nicht zu beklagen und ich habe sie, ein kleines satirisches Gedicht ‚L’académie et le caveau‘ abgerechnet, niemals angegriffen. Wenn ich der Akademie einen Vorwurf machen wollte, so würde er darin bestehen, daß sie mit unserer Sprache allzu eigenmächtig schaltet und waltet, daß sie sich das Recht anmaßt, über unsern Sprachschatz eigenmächtig zu verfügen, ohne die übrigen Mitglieder des Instituts zu Rathe zu ziehen. Wollte die Académie française in ihrem Dictionnaire ein wirkliches Nationaldenkmal schaffen, so müßte sie den vier andern Akademien bereitwilligst Sitz und Stimme einräumen und überhaupt viel liberaler verfahren. Sie verbannt aber aus ihrem Wörterbuche unzählige Wörter und Ausdrücke, deren alle Franzosen und die Verfasser des akademischen Wörterbuchs selbst sich jeden Augenblick bedienen. Das ist lächerlich und daher kommt es auch, daß nichts weniger national ist, als das legitime Dictionnaire der französischen Akademie.“

Ich fragte ferner, ob er noch dichte.

„Seit sechs Jahren,“ antwortete er, „habe ich keinen einzigen Vers zu Stande gebracht; doch habe ich einen Band ungedruckter Gedichte liegen, die nach meinem Tode erscheinen werden.“

Wir kamen jetzt auf die deutsche Literatur und auf Goethe’s Faust zu sprechen. Er kannte diese Tragödie bis in deren Einzelnheiten und fragte mich, ob sie aufgeführt werden könnte, und als ich diese Frage bejahte, war er sehr begierig zu wissen, welche Wirkung sie auf der Bühne hervorbringe. Ich versicherte ihm, daß dieses Meisterwerk ganz bewältigend auf der Bühne sei, wenn die Darsteller ihren Rollen gewachsen, und daß ich im Jahre 1833 in Frankfurt einer Vorstellung des Faust beigewohnt, die auf mich, der ich damals noch blutjung war, einen unauslöschlichen Eindruck hervorbrachte. Er fragte mich nach den Hauptdarstellern, und ich nannte ihm Seydelmann und Fräulein Lindner. Ich mußte ihm diese Namen mehrere Male wiederholen.

Er bemerkte hierauf, daß er in Bezug auf Tragödien seinen eigenen Geschmack habe, daß er nämlich ausschließlich das griechische Trauerspiel liebe. Aeschylus, Sophokles und Euripides seien wahre Tragödiendichter. Ueber das deutsche Trauerspiel wolle er nicht urtheilen, da er es nicht kenne; die französische Tragödie habe ihn aber niemals angemuthet, sie sei kalt, zu conventionell.

Er wußte recht gut, daß Goethe oft über ihn gesprochen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_578.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2018)