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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes.[1]
Von Dr. M. D. in Wien.

Je freiheitwürdiger ein Volk ist, um so edler
verhält es sich gegen Schwächere, ritterlicher
gegen Frauen, barmherziger gegen Thiere.

Prescott.

Vor einiger Zeit kam ein verdienter amerikanischer General, der, wie ich wußte, die Absicht hatte, sich mit seiner liebenswürdigen Familie längere Zeit hier in Wien aufzuhalten, zu mir, um Abschied zu nehmen. Ich sprach ihm mein bedauerndes Erstaunen über diese Aenderung seiner Pläne aus und besonders darüber, daß er damit einen der mir kundgegebenen Hauptzwecke seines Herüberkommens nach Europa, „den Kampf der Cultur an ihrer Ostgrenze zu studiren, wie er ihren Vormarsch an der Westgrenze durch Jahre beobachtet hatte“, aufgebe. Er aber entgegnete in ungewohnter Aufregung:

„Lieber Freund, ich verlasse Wien ungern; es ist eine prächtige, freundliche Stadt mit einem Anfluge von südlichem Himmel und behaglichen Bewohnern, die leben und leben lassen. Mich hat neben meinen Studienzwecken die Sehnsucht nach dem Vollgenusse der Civilisation und milden Lebensformen nach dem alten Continente gezogen – trotz seiner ‚Basalte und alten Schlösser‘,“ setzte er lachend hinzu, „nachdem ich des Revolverrechtes und der Geld- und Menschenjagd unter dem johlenden ‚go ahead‘ satt geworden war – aber –“

„Sollten Sie Civilisation und milde Sitten nicht in Wien gefunden haben?“ fiel ich dem Stockenden in die Rede.

„Gewiß,“ entgegnete er mir. „Eure Sitten sind sogar bis zu der Schlaffheit und freundlichen Gedankenlosigkeit weich, die Ihr mit so herbem Unrecht am edeln Begriffe des ‚deutschen Gemüths‘ ‚Wiener Gemüthlichkeit‘ nennt, und Eure Civilisation ist so üppig, daß sie wahrhaft asiatische Schlagschatten hat, die an dem heiteren Bilde Eures öffentlichen Lebens unerträglich sind. Zu den tiefsten dieser Schatten gehört die hier geübte Barbarei gegen Thiere, die sich mit jener ‚feschen‘ Gemüthlichkeit ganz wohl zu vertragen scheint, und das respectlose Verhalten gegen Frauen, das unsere amerikanische Ritterlichkeit verletzt. Wie grausam und ungeschickt zugleich transportiren Eure Eisenbahnen, diese Träger der Cultur, das Vieh; wie barbarisch führt Ihr es zur Schlachtbank; welches Material an Pferden vergeuden Eure thörichten Fiaker und Fuhrleute; wie incorrect und gedankenlos verwendet Ihr Hunde zum Ziehen – wahrlich, es ist etwas Orientalisches darin. Ich habe den Secessionskrieg mitgemacht,“ fuhr er fort, „und es war ein Krieg, der alle Brutalität aus ihrem Käfig gelassen zu haben schien. Ich sah die Schlachtfelder von Bulls Run bis zum Ende, und meine Töchter haben in den Lazarethen zerschossene Neger verbunden und zwischen den Todeskämpfen des gelben Fiebers gestanden – wir haben es ertragen, denn es war der Krieg, die Leidenschaft, der Kampf – wir sind nicht empfindsam und unsere Nerven sind gut – aber der tägliche Anblick der mit kaltem Blute, mitten in einem üppigen Culturleben, gewohnheitsmäßig, unter den Augen der Behörde und dadurch gleichsam öffentlich sanctionirt ausgeübten maßlosen Bestialität bei Euren Viehtransporten kehrt uns das Herz um, treibt uns zur Stadt hinaus, wie uns die Qual des durch gesunkene Völker gemarterten Viehes Italien, Spanien und den Orient verleidet hat.

Wir haben gelernt, daß ein Volk, je freiheitwürdiger und stärker es ist, um so barmherziger gegen den Schwachen ist. Nur sittlich schwache Menschen und Völker sind grausam. Und dazu gesellt sich für meinen praktischen amerikanischen Sinn der Aerger darüber, daß diese Transportmethoden nicht allein die brutalsten, sondern auch so unverständig, unökonomisch und obendrein sanitätswidrig sind, daß sie andernorts der gesunde, verständige Sinn der Bevölkerung längst von selbst beseitigt haben würde, wenn ihm nicht eine gewissenhafte Sanitätsbehörde mit ihrem Veto zuvorgekommen wäre, wie rationelle Gesundheitspflege in allen civilisirten Ländern den Metzgerhund vom Viehtreiben entfernt hat. Wir Vielgereisten, Urtheilsberechtigten wissen, daß man in Wien von allen Großstädten das schlechteste Fleisch speist, und wir sind überzeugt, daß es auch das ungesundeste von Allem ist und unter die bei weitem am verderblichsten wirkenden Factoren gehört, die Wien zu einer der ungesundesten Städte der Welt machen. Man weiß längst, welchen Einfluß die Art und Weise, wie Vieh zum Schlachtmarkt gebracht wird, auf die Beschaffenheit desselben ausübt.

Wem wässert nicht der Mund bei dem Gedanken an die prachtvollen ‚joints‘, die das an Ort und Stelle gezogene Steyrische, Schweizer, Vierländer und Yorkshire Vieh auf die Tafel liefert. Die Qual des Thieres beim Transporte verdirbt nicht allein den Geschmack an dessen Fleisch, sondern macht dasselbe auch krank. Schon die Waidmannsweisheit des Mittelalters ließ den, der vom Fleische des gehetzten Hirsches aß, mit Lungengebreste bestrafen; der Spanier verscharrt den Körper des zu Tode geplagten Kampfstieres. In England und Amerika hat dieses Wissen längst in der Gesetzgebung praktisches Capital geschlagen.

In England schützt schon das Gesetz vom 10. Juli 1854 im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege vor Grausamkeiten beim Eisenbahntransporte, und das amerikanische Gesetz vom 13. Juli 1866 schreibt sogar die Behandlungsweise des Viehes unterwegs vor. Und wenn es diese Gesetze nicht gäbe, das kräftige anglogermanische Volk, das sein ‚beef‘ für seine markige Thätigkeit braucht und sein ‚veal‘ dem ‚beef‘ ähnlich zu finden liebt, würde den Fleischer verhungern lassen, der Euer ungesundes, gequältes Rindfleisch, das weichliche saft- und kraftlose, unreife, gemarterte Halbfleisch-Kalbfleisch feilhalten wollte, durch dessen Genuß Eure gemächliche Bevölkerung ihren allerdings mäßigen Kraftconsum zu ersetzen sucht.

Sehen Sie aber auch die jämmerlichen Kälbertransporte durch die schöne Stadt Wien an und sagen Sie mir, ob das eine civilisirte Form der Versorgung mit Lebensmitteln ist! Die jungen Thiere werden, kaum geboren, unreif in jeder Beziehung, niedergeworfen, unbarmherzig geknebelt und auf Wagen geschichtet. Und wie! Mit wenig Stroh, die Köpfe über den harten Rand des Wagens herabhängend, der bei den Erschütterungen der Fahrt sie wie Keulenschläge trifft, mit durch die Knebelung stockendem Blute liegen sie da, und die Aufläder steigen mit schweren Stiefeln auf den weichen Leibern der unglücklichen Geschöpfe herum, nicht beachtend, ob sie ein Auge aus- oder einen dünnen Knochen zertreten, wohl aber mit den Absätzen nach den Köpfen schlagend, welche die Thiere verzweifelt in die Höhe werfen. Oft schon sah ich auch die Thiere zweifach übereinander geschichtet. Abends geladen, bleiben sie über Nacht bei Regen und Frost, oft auch, noch schlimmer, während des Sommers über Tag in glühendem Sonnenbrande in dieser abscheulichen Lage, immer auf’s Neue versuchend, den Kopf zu heben, bis er völlig matt herab und die blaue Zunge aus dem Maul hängt, die Augen blutunterlaufen aus den Höhlen quellen und die Thiere fast erfroren oder verlechzt sind. Nur ‚fast‘, denn der Fleischer verlangt, daß die Thiere noch zucken, wenn sie vom Wagen geworfen werden – sonst Nichts. Morgens geht es denn im lustigen Wiener Tritt mit der erbärmlichen Ladung nach der Stadt, meilenweit über die Steppenwege der Wiener Gegend, die Sie ja kennen, und über das Pflaster, daß die Köpfe der Thiere stundenlang ununterbrochen auf das harte Holz aufschlagen oder auch blutend an die Räder streifen.

Ja, ja, ich sah das Alles mit zusammengezogenem Herzen und sah auch die Wiener Frauen die schönen Augen darauf richten – aber Nichts sehen; darin besteht ja vor Allem die Wiener Gemüthlichkeit, Unbehagliches nicht zu sehen. Ist die Octroilinie der Stadt passirt, so wird den Thieren ‚Gewicht gegeben‘. Der Frachtführer ergreift eine Kanne mit langem Schnabel, gefüllt mit einer Mischung von Syrup und Wasser, öffnet dem Thiere das Maul, hält ihm die Nase zu, steckt ihm den Kannenschnabel tief in den Rachen und füllt es so, nach Art des

  1. Wir machen unsere Leser, in erster Linie die Eisenbahn-Directoren und Beamten unter ihnen, auf diesen Artikel, der uns der Feder einer bekannten Autorität in Eisenbahn-Angelegenheiten stammt, noch ganz besonders aufmerksam, möchten auch dabei betonen, daß die darin gerügten Uebelstände sich nicht nur in Oesterreich, sondern auch in dem gesammten Deutschland vorfinden und einer baldigen Abhülfe sehr bedürftig sind.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_546.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)