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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Er verließ mit einer tiefen Verneigung das Gemach, und es war ihm Ernst mit den letzten Worten. Gianelli war ein zu guter Rechner, um Etwas, das sich vielleicht früher oder später doch einmal gegen den gehaßten Rinaldo verwenden ließ, nicht als ein kostbares Geheimniß zu betrachten. Wenn er die pikante Neuigkeit jetzt den Gesellschaftskreisen preisgab, so ließ sich eben nichts weiter damit anfangen, in seinem Alleinbesitz dagegen konnte sie zu Vielem nützen. Sicherte sie ihm für den Augenblick doch schon einen Einfluß auf Beatrice und indirect sogar auf Rinaldo, dem dieses Bekanntwerden seiner Familienbeziehungen zum Mindesten nicht angenehm sein konnte.

In der vortrefflichsten Stimmung durchschritt der Maestro den Salon und trat in das Vorzimmer, wo sich augenblicklich nur der Matrose Jonas befand. Der Capitain hatte ihn seinem Bruder mit einem Auftrage nachgesendet; er wähnte diesen bei Signora Biancona; Reinhold befand sich aber noch bei dem Intendanten, wurde jedoch jeden Augenblick erwartet. Das erfuhr Jonas von einem Bedienten, der aus dem Dienste des Impressario, welcher einst die italienische Operngesellschaft nach Deutschland führte, in den Beatrice’s übergangen war und als Errungenschaft seiner nordischen Reise etwas Deutsch radebrechte. Da der Matrose den Auftrag hatte, das Billet seines Herrn dessen Bruder selbst zu übergeben, so blieb ihm nichts übrig, als zu warten; er faßte daher im Vorgemach Posto, das Reinhold jedenfalls passiren mußte. Er hatte allerdings bemerkt, daß die Thür eines der Hinterzimmer offen stand und daß sich dort Jemand befand, anscheinend ein Kammermädchen der Signora, welches sich mit einer Robe ihrer Gebieterin beschäftigte. Da dieser Jemand aber ein Frauenzimmer war, so existirte er begreiflicherweise nicht für Jonas, der sich, mürrisch und schweigsam wie gewöhnlich, in eine der Fensterecken zurückzog und dort schon über eine Viertelstunde harrte, ohne die mindeste Notiz von jener Nachbarschaft zu nehmen.

Signor Gianelli schien in Bezug auf die Frauen gerade den entgegengesetzten Ansichten zu huldigen; denn er hatte kaum die offenstehende Thür und das junge Mädchen entdeckt,[WS 1] als er auch sofort seinen Cours änderte und nach jener Richtung steuerte. Jonas verstand natürlich nichts von dem italienisch geführten Gespräche, das sich jetzt zwischen den Beiden entspann, aber so viel wurde ihm doch klar, daß der Maestro sich bemühte, den Liebenswürdigen zu spielen, freilich, wie es schien, ohne besonderen Erfolg; denn er erhielt nur kurze und ziemlich trotzig klingende Antworten, und dabei wurden die schweren Seidenwogen der Robe so geschickt drapirt, daß er nicht näher kommen konnte, ohne den hellen Atlas zu zerknittern. Das dauerte einige Minuten, dann schien Signor Gianelli dennoch eine ernstliche Attaque zu versuchen; denn man hörte einen entrüsteten Ausruf, dem das zornige Aufstampfen eines kleinen Fußes folgte. Die Robe flog zur Seite, und das junge Mädchen flüchtete in das Vorgemach, wo es mit trotzig verschränkten Armen und zornsprühenden Augen stehen blieb. Der Maestro aber war ihm gefolgt, und ohne im Mindesten durch den Widerstand eingeschüchtert zu werden, machte er Miene, den ihm vorhin augenscheinlich versagten Kuß hier zu erzwingen, als er auf ein höchst unerwartetes Hinderniß stieß. Eine kräftige Faust packte ihn urplötzlich am Kragen und eine fremde Stimme sagte mit nachdrücklicher Betonung:

„Das läßt man bleiben.“

Im ersten Augenblick schien der Italiener sehr betroffen durch diese Dazwischenkunft eines Fremden, den er noch gar nicht bemerkt hatte, als er diesen aber genauer ansah und entdeckte, daß er es nur mit einem gewöhnlichen Matrosen zu thun hatte, richtete er sich mit großem Selbstbewußtsein und großer Entrüstung auf. Er kehrte die Sache sofort um und spielte den Beleidigten. Wie man es wagen könne, einen Mann in seiner Stellung anzugreifen, noch dazu in den Zimmern Signora Biancona’s; er werde sich bei der Signora darüber beklagen; was das denn eigentlich für eine Persönlichkeit sei, die sich dergleichen herausnehme, und damit strömte eine ganze Fluth von nicht gerade schmeichelhaften Ehrentiteln auf den armen Jonas herab.

Dieser ertrug mit unverwüstlicher Gelassenheit die auf ihn gehäuften Beleidigungen, da er nicht eine einzige davon verstand, als sich aber der Italiener, durch diese Ruhe getäuscht, beikommen ließ, mit seinem Spazierstocke einige drohende Bewegungen zu machen, da war es aus mit der Gelassenheit des Matrosen; denn diese Pantomime begriff er sehr gut. Mit einem einzigen Ruck hatte er dem Maestro den Stock entrissen, in der nächsten Secunde ihn selber umfaßt und säuberlich zur Thür hinausgeschoben, dann warf er ihm seinen Stock nach, schloß die Thür, alles ohne ein einziges Wort zu sprechen, und kehrte ruhig, als sei nicht das Mindeste vorgefallen, wieder in seine Fensterecke zurück. Hier aber trat ihm bereits das junge Mädchen entgegen, das in aufwallender Dankbarkeit und mit südlicher Lebhaftigkeit ihm beide Hände entgegenstreckte.

„Ist nicht nöthig! Ist gern geschehen,“ sagte Jonas trocken, aber in dem Augenblick, wo er abwehrend den Arm ausstreckte, legte sich eine kleine Hand auf denselben, und eine helle Stimme sprach in den weichsten Tönen etwas, das ganz unzweifelhaft einen Dank ausdrücken sollte.

Jonas sah höchst indignirt erst seinen Arm, dann die Hand an, die noch immer auf demselben lag, und nachdem er beide eine Weile angeschaut, ließ er sich endlich herab, auch auf die zu der Hand gehörige Person einen Blick zu werfen.

Vor ihm stand ein junges Mädchen von höchstens sechszehn Jahren, eine kleine, so unendlich leichte und zierliche Gestalt, daß sie den denkbar größten Gegensatz zu der breiten Figur des Seemannes bildete. Eine Fülle prächtiger blauschwarzer Flechten umgab das Gesichtchen, das mit seinem dunklen, braunen Teint und brennend schwarzen Augen jedenfalls dem Süden Italiens entstammte. Die Kleine war ohne Zweifel hübsch, sehr hübsch, das ließ sich nicht leugnen, und die Lebendigkeit, mit der sie sich bemühte, ihrem Beschützer zu zeigen, wie sehr dankbar sie ihm sei, machte sie nur noch anmuthiger.

„Ja, wenn ich nur die vermaledeite Sprache verstände!“ brummte Jonas, in dem zum ersten Male etwas wie Reue darüber aufstieg, daß er die während des Sommers ihm so reichlich gebotene Gelegenheit zum Lernen des Italienischen stets in hartnäckiger Verschlossenheit von sich gewiesen hatte. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln und gab auf diese Weise pantomimisch zu verstehen, daß er des Italienischen nicht mächtig sei, was das junge Mädchen ganz unerhört und nebenbei sehr unangenehm zu finden schien.

„Den Herrn Reinhold soll ich suchen,“ brummte Jonas weiter, bei dem sich merkwürdiger Weise ein Bedürfniß nach Mittheilung kund gab, das er sonst einem „Frauenzimmer“ gegenüber nie empfand. Er machte aber die Entdeckung, daß auch der Name nicht verstanden wurde, denn jetzt war die Reihe den Kopf zu schütteln und die Achseln zu zucken an seiner Gefährtin.

„Ja so,“ sagte der Matrose ärgerlich, „er hat ja nicht einmal seinen ehrlichen deutschen Namen behalten! Rinaldo läßt er sich hier nennen – daß Gott erbarm! so heißen bei uns zu Hause die Räuber und Spitzbuben. Signor Rinaldo,“ erklärte er, indem er zugleich das Billet seines Herrn hervorzog, das den gleichen Namen trug. Diese Adresse war nun freilich bekannt genug im Hause Signora Biancona’s, eine weitere Verständigung für jetzt aber unnöthig; denn gerade in dem Augenblick, wo die Beiden ihre Köpfe eifrig über den Brief hinneigten, öffnete sich die Thür des Vorzimmers, und Reinhold selbst trat ein.

Das junge Mädchen bemerkte ihn zuerst. Sie war urplötzlich von der Seite des Matrosen weg und in der Mitte des Gemaches, wo sie einen zierlichen Knix machte, und dann in der Richtung des Salons verschwand, wahrscheinlich um ihrer Gebieterin den längst Erwarteten zu melden, während Jonas, der nicht zu begreifen schien, wie Jemand so leicht und schnell davonfliegen und im Laufe weniger Secunden so spurlos verschwinden könne, ihr so beharrlich nachblickte, daß Reinhold an ihn herantreten und ihn fragen mußte, wie er hierher komme. Beschämt und etwas verlegen entledigte sich der Matrose seines Auftrages und übergab das Billet, das Almbach erbrach und flüchtig durchlas; der Inhalt desselben schien ihn sehr gleichgültig zu lassen.

„Sagen Sie meinem Bruder, ich wäre für heute bereits gefesselt, ich ließe ihn bitten, die Einladung des Marchese allein anzunehmen. Wenn es irgend möglich ist, so erscheine ich noch gegen Abend.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eutdeckt
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_541.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)