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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

machten?“ frug der Professor, als wir von Neuem im Wagen saßen.

Ohne meine Antwort abzuwarten, schritt er mir voran durch die langen württembergischen Wagen hindurch. Die Conducteure, welche sämmtlich die Bräuche des allverehrten Mannes schon längst kannten, ließen ihn bereitwillig gewähren. Nun war es reizend mit anzusehen, wie der feine Herr mit dem Volke in der dritten Classe verkehrte. Dort ließ er sich von einem Bauern über den Stand der Ernte berichten; hier sprach er einem alten Mütterlein Trost zu, die weinte, daß ihr Sohn unter die Soldaten gemußt, oder beschenkte ein schüchternes Kind mit Zimmtsternen und Zuckerbrödchen, die er fast immer in der Tasche trug.

„Was fehlt dem Mädchen da?“ frug er mich, plötzlich stehen bleibend, indem er auf ein bleiches, trotz der warmen Jahreszeit dick bekleidetes Kind zeigte.

„Herr Professor, das kann ich unmöglich sagen, ehe ich es examinirt und untersucht habe,“ war die Antwort.

„Das Kind hat Bronchiektasien; darauf können Sie Gift nehmen. Merken Sie sich’s!“ – und damit wies er auf die eigenthümlich trommelschlägelartig geformten Finger des Mädchens – „wenn ein Kind solche Fingerspitzen zeigt, dann hat es gemeiniglich Bronchiektasien.“

Es war so; ich habe dieses Kind wenige Tage nachher in der Tübinger Klinik untersucht, und es hatte wirklich Bronchiektasien; Niemeyer aber nahm es in den Arm und trug es in sein eigenes Coupé hinüber, um die kranke Lunge des Kindes von dem Tabaksrauche zu erlösen, der durch den Wagen qualmte.

Wir kamen in den nächsten Wagen. Neben einer alten Frau saß ein junges Mädchen, den unförmlichen Kopf dicht mit einem Tuche umwickelt. Er lüftete leicht das Tuch, welches die Stirn des Mädchens umhüllte. Sie war von dicken, gelbweißen, tropfsteinartigen Gebilden bedeckt, die sich, gleich einem Turban, über das ganze Gewölbe des Schädels herlegten; von den Haaren war keine Spur mehr sichtbar.

„Ihr seid auf dem Wege nach Tübingen?“ frug er die alte Frau, welche neben dem Mädchen saß. Sie bejahte die Frage und setzte dem Professor in echt schwäbischer Breite auseinander, daß sie dort den berühmten Professor Niemeyer wegen des kranken Kopfes ihres Töchterleins befragen wolle.

„Das findet sich ja ganz hübsch. Ihr könnt gleich mit mir kommen; dann nehmen wir,“ fuhr er zu mir gewendet fort, „die Krankengeschichte gleich unterwegs auf.“

Damit geleitete er die Beiden gleichfalls in sein Coupé hinüber, wo er sie neben dem lungenkranken Kinde sich setzen ließ.

„Was machen wir mit dem Kopfe des Kindes?“ frug er, nachdem ich die Krankengeschichte verzeichnet, die er mit einer seltenen Genauigkeit aufgenommen hatte.

Ich zuckte mit den Achseln. „Viel wird in diesem Fall nicht zu machen sein; ich wenigstens halte Heilversuche mit einem so hochgradigen Favus für erfolglos.“

„Oho, so schnell werfen wir die Flinte noch nicht in’s Korn,“ rief der Professor. Und jetzt entwickelte er in einer so ungemein lebendigen Weise eine Reihe der originellsten Anschauungen über die Heilung des Favus, die er mit den Worten schloß: „Curirt wird das Mädchen, darauf können Sie Gift nehmen; aber mit ihren Haaren ist es auf alle Ewigkeit vorbei. Schade übrigens um das hübsche Köpfchen,“ fuhr er nach einer, Weile fort; „ich denke, wir kaufen dem Kinde eine Lockenperrücke, sobald wir es curirt haben, dann kann es sich mit Anstand wieder unter den Menschen sehen lassen.“

Und er hat Wort gehalten. Nach wenigen Monaten entließ er das Mädchen, vollständig hergestellt, aus seiner Klinik und gab ihm zur Erinnerung eine kostbare Lockenperrücke mit, unter der es den kahlen Schädel mit mädchenhafter Eitelkeit versteckte.

Endlich gelangten wir in Tübingen an. Ich wurde sofort beordert, die unterwegs eingefangenen Patienten nach dem Universitätskrankenhause zu begleiten und Quartier für dieselben zu bestellen.

In solcher Weise las der geniale Arzt mit den Adleraugen ganz gewöhnlich gerade das interessanteste Material für seinen klinischen Unterricht in des Wortes eigentlicher Bedeutung von der Straße auf; in dem Garten des Tübinger Universitätskrankenhauses konnte man während der Sommermonate regelmäßig eine kleine Schaar solcher auf der Straße gefundener Leute spazieren sehen, die an unheilbaren, aber hochinteressanten und sehr seltenen Krankheiten litten. Durch seine persönliche Liebenswürdigkeit und die humane Vorsorge, die er jeder Zeit für seine Pfleglinge an den Tag legte, wußte es Niemeyer dahin zu bringen, daß solche Kranke bis an ihr Ende im Tübinger Krankenhause verblieben und ihm, wie seinen Schülern, Gelegenheit zu wichtigen Beobachtungen und schließlich zu lehrreichen Sectionen gaben, ja, er verstand es sogar, durch seine allzeit lebendigen, nicht allein ungemein lehrreichen, sondern auch im höchsten Grade unterhaltenden Vorträge den Patienten selbst die medicinische Klinik in Tübingen so anziehend zu machen, daß sie sich förmlich als Mitglieder der Facultät betrachteten und sogar zuweilen den jüngeren Zuhörern Niemeyer’s populäre Vorträge im Garten des Krankenhauses hielten. Namentlich zwei dieser ständigen Patienten waren ganz originelle Käuze. Der eine litt an hochgradiger Entartung der Nebennieren; er war in Folge seiner Krankheit schwarzbraun, wie ein richtiger Mulatte, hatte aber ein zähes Leben und konnte bei warmem Wetter ohne jede Gefahr in’s Freie gehen und außerdem alle häuslichen Verrichtungen besorgen, die keine große Körperkraft erforderten. Er benutzte jede Gelegenheit, sich unter den Professoren der Medicin und den angehenden Aerzten herumzutreiben, und benahm sich allzeit mit großer urkomischer Herablassung gegen dieselben, nur dem Lehrer der pathologischen Anatomie ging er mit possirlicher Scheu aus dem Wege; seinen verstorbenen Collegen, wie er seine Leidensgefährten im Tübinger Krankenhause nannte, gab er regelmäßig das Geleit zu Grabe, in langem blauem Rocke, schwarzem Cylinderhute und weißen baumwollenen Handschuhen, welche Kleidungsstücke er von dem Professor zum Geschenk erhalten hatte. Der andere, der sicher jedem Schüler Niemeyer’s unvergeßliche Remigius Leins, litt an so vollständiger Gefühllosigkeit der Haut, daß er kochendes Wasser nicht von kaltem unterscheiden konnte und das Bett, auf dem er lag, den Fußboden, über den er ging, nicht unter seinen Füßen fühlte, sondern in der Luft zu liegen und zu gehen vermeinte. Er konnte überhaupt nur mit Hülfe des Gesichtssinnes gehen und hantiren; hielt man ihm plötzlich die Augen zu, so wäre er zu Boden gestürzt, wenn man ihn nicht mit den Armen aufgefangen hätte, und Gegenstände, die er in den Händen hielt, entfielen ihm, sobald er den Blick von ihnen wandte. Niemeyer benutzte ihn regelmäßig als glänzendes Beispiel zur Widerlegung der von Professor Leyden aufgestellten Theorie über das Wesen der Rückenmarksschwindsucht. Trotz seines trostlosen Zustandes war dieser Mensch ein lustiger Geselle und ließ sich mit großem Vergnügen von den jüngeren Studenten zu Scherzen und Mystificationen verwenden, zu deren Opfern nicht Medicin studirende Commilitonen erkoren wurden.

Sein allzeit anziehender und wunderbar anschaulicher Vortrag war das Hauptverdienst Niemeyer’s; in ihm gipfelte seine Bedeutung als Lehrer der Medicin. Wohl hat es gleichzeitig mit ihm eine Reihe wissenschaftlich viel bedeutenderer Koryphäen in der Heilkunde gegeben – ich erinnere z. B. nur an seinen Vorgänger Griesinger –, aber als Lehrer standen sie Alle tief unter ihm. Wenn Griesinger eine seiner unerhörten Diagnosen stellte, dann klangen seine Worte dunkel wie ein Orakel; die Diagnose bewies sich richtig bei der Section, aber die Fäden, an denen er sich in dem labyrinthischen Dunkel zurecht gefunden, blieben verborgen vor den Augen seiner Schüler. Bei Niemeyer war es umgekehrt; er hat sich trotz des beispiellosen Glückes, das er in der Praxis gehabt, oft genug geirrt, aber aus jedem seiner Irrthümer haben seine Schüler etwas gelernt. Der Umstand, daß Niemeyer’s Vorträge niemals langweilig waren, ist vor Allem Ursache gewesen, daß seine Klinik nicht leicht „geschwänzt“ wurde; ja, nicht selten erschienen auch Nichtärzte in ihr, so wurde sie von Konewka während seines Aufenthaltes in Tübingen vielfach besucht, wenn er sich einmal, wie er sagte, recht gut unterhalten wollte. Hand in Hand mit seinem rhetorischen Talente ging sein Geschick, seine Zuhörer auf die ärztliche Praxis einzuschulen. Beiden hat er in seinem Lehrbuche der Medicin ein glänzendes Denkmal gesetzt, das auf lange Zeit das beste Unterrichtsbuch für Schüler der Heilkunde sein wird. Diesen beiden Eigenschaften Niemeyer’s hat es mein Heimathland Württemberg zu




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_516.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2020)