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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Bild, nahezu vollendet. Den Mittelpunkt einer gestaltenreichen und dramatisch bewegten Gruppe bildete darauf ein schwer verwundeter Mann, der von anderen getragen wurde.

Anfangs waren die Blicke meiner Begleiterin nur von diesem Gemälde gefesselt. Dann aber schaute sie umher – und nun malte sich in ihren Zügen in rascher Folge Entsetzen, Aerger, Enttäuschung, und bald umspielte ihre feinen Lippen ein Lächeln der Verachtung.

Denn hier erblickte sie menschliche Gliedmaßen und Körpertheile von Gyps, dort Puppen und Gestelle, behangen mit allerlei Zierrath und Gewandung von den ärmlichsten bis zu den reichsten Stoffen; hier aufgeschlagene Costümbücher, dort schauderhaft getreue anatomische Zeichnungen der Musculatur und Knochenstellung von Armen und Beinen, Schultern und Hüften; hier einen hölzernen Gliedermann, welcher an Schnüren von der Zimmerdecke herabhing, genau in derselben Haltung wie der verwundete Mann auf dem Bilde und bis auf den letzten Faden übereinstimmend gekleidet, wie er dort gemalt war; dort endlich das für sie Allerentsetzlichste: ein auf den Maler wartendes lebendiges Modell, ein Frauenzimmer, in gleicher Tracht wie die weibliche Hauptfigur des Gemäldes und dieser frappant ähnlich, so gut es der Meister auch verstanden hatte, ihren etwas gewöhnlichen Gesichtsausdruck hochtragisch zu veredeln.

„O, hätten Sie mir das nicht angethan!“ rief meine Begleiterin. „Meine schönste Illusion, meinen Glauben an die schöpferische Macht des Genius, haben Sie mir unbarmherzig vernichtet. Die göttliche Kunst haben Sie mir aufgelöst in mühselige Menschenarbeit, welche mit kleinlichem Ameisenfleiße von Plunder- und Kehrichthaufen Schalenbröckchen zusammenträgt, um sie aneinander zu leimen und uns damit vorzulügen, daß der Mensch aus sich heraus die Natur verschönert wiedergebären könne.“

Was meinen Sie, verehrter Freund? Hatte ich wirklich unrecht gethan, meine junge Freundin einzuführen in die Werkstatt des Meisters? Hatte sie etwas wirklich Werthvolles verloren an ihrer Illusion? Ist ihr die Malerei für immer verleidet, der Maler für immer herabgedrückt geblieben zum bloßen Sammler und Abschreiber, seit ihm der Nimbus eines Hexenmeisters vom Kopfe verschwunden war?

Im Gegentheil, sie ist seitdem längst genesen zu einer ungleich würdigeren, wenn auch minder überschwänglichen Vorstellung von seiner Kunst. Sie weiß nun, daß das Bilden aus ewig vorhandenem Stoffe und mit ewig vererbten Kräften, offenbar wie das Sonnenlicht und dennoch wie dieses auf tiefstem Grunde ein göttliches Geheimniß, ein weit höheres und edleres Wunder ist, als die geträumte stofflos waltende Magie. Er hat nichts bei ihr eingebüßt, als das werthlose Staunen des Aberglaubens an eine mittellose Schöpfung aus Nichts.

Unter ganz derselben Illusion hatte unsere Poesie so sehr und so lange gelitten, daß sie ihrem Untergange nahe gekommen war. Beinahe zur Fabel war es ihr geworden, daß auch von ihren Aufgaben die höchste darin bestehe, durch die Gesammtheit der ihr eigenthümlichen Mittel Bilder und Gestalten zu wirken, wie Malerei und Sculptur, nur freilich, im Unterschiede von diesen beiden, durchaus nur bewegte Bilder und Gestalten. So hatte sie es verlernt, auch eine bildende Kunst zu sein, und zwar die bildende Kunst für die Einbildungskraft des Hörers.

Nur noch die Musik war auch theilweise hineingerathen in eine ähnliche Lage durch die rückenmarkzehrende Fortepianokrankheit, durch die beinahe siegreiche Verbreitung des albernen Wahnes, daß man kaum vollgültigen Anspruch habe auf den Namen eines gebildeten Menschen, wenn man nicht einige Clavierfähigkeit besitze, daß man dafür aber durch Clavierspiel auch schon ein Musiker sei.

Alle übrigen Künste sind gegen die Dichtkunst dadurch in entschiedenem Vortheile, daß Niemand auch nur ihre Schwelle betreten kann, ohne in eigener Vorschule bedeutende Schwierigkeiten überwinden gelernt und eine Reihe vorbereitender Stufen überstiegen zu haben. In ihrer nur mühsam und in vielen Lehrlingsjahren zu erwerbenden Technik besitzen Baukunst, Bildhauerkunst und Malerei eine heilsam abschreckende Schutzwehr gegen Dasjenige, was keine Kunst erdulden kann, ohne ihren Zwecken entfremdet und tief erniedrigt zu werden: gegen den verderblichen Andrang der Dilettanten und Pfuscher. Jeder halbwegs Vernünftige begreift, daß man Architekt, Bildhauer, Maler entweder ganz oder gar nicht sein müsse. Eines der drei nur nebenbei sein zu wollen, hat etwas unmittelbar Lächerliches.

Die Dichtkunst hingegen hat das Unglück, daß die überwältigende Mehrzahl ihrer Jünger aus Nebenbeipoeten besteht.

Das Darstellungsmaterial der Dichtkunst ist die Sprache. Jeder besitzt sie, wenn auch in sehr verschiedenem Umfange, da man bekanntlich mit etwa fünfhundert Wörtern ausreicht für das gewöhnliche Lebensbedürfniß, ja das Gesammtlexikon der meisten Menschen eine noch geringere Zahl enthält, während Goethe über zehntausend, Shakespeare über fünfzehntausend gebraucht hat.

Jeder Gebildete hat die Sprache verwenden gelernt zu Aufgaben, welche denen der Poesie nahe kommen und zuweilen wirklich in ihr Gebiet eintreten. Man darf sogar behaupten, es sei nicht möglich zu reden ohne einige Poesie. Seit große Dichter die Sprache in ihrer höchsten Ausbildung weiten Kreisen geläufig gemacht, sind sogar die Anfangsgründe poetischer Technik fast Gemeingut geworden. Die Zahl Derer, welche insofern wirklich schon Dichter sind, als sie eine Empfindung in passenden Worten auszudrücken, ein Erlebniß verständlich zu erzählen wissen, ist seitdem freilich angeschwollen zur Legion. Wo jedoch jenseits dieser umstürmten Schwelle des äußern Vorhofs der wirkliche Tempel und wo sein Allerheiligstes beginne, welche Bedingungen die Poesie zu erfüllen habe, um auch für sich den Namen einer Kunst zu verdienen, woher allein sie den Gehalt schöpfen könne, um ihr fast eingebüßtes heiliges Erbamt wieder mit Würde und Erfolg zu bekleiden: das war fast in Vergessenheit gerathen. Die Stimmen der Wenigen, die es noch wußten, wurden überschrieen vom lärmenden Schwarm, der sich einbildete, ihm habe der Zuruf Uhland’s gegolten:

Singe, wem Gesang gegeben,
In dem deutschen Dichterwald,

was denn alsbald sämmtliche Raben und Papageien mit ihrem Concert zu befolgen sich berufen fühlten. Man vergaß, daß mit dem Steigen des allgemeinen Niveaus der Sprachgeläufigkeit die Linie, wo die Sprach-Kunst beginnt, dreifach höher emporgerückt und neunfach schwerer erreichbar geworden. Denn zur Sprachfertigkeit auch des Gebildeten hat sich jederzeit die Sprachgewalt des Dichters zu verhalten wie etwa zu der Geschicklichkeit, eine Lithographie sauber anzustreichen aus bereitstehendem Tuschkasten, die Farbenallmacht eines [[Lessing und Achenbach, wie zu der Fingergewandtheit, welche – um mit Shakespeare zu reden – nach Tisch ein Männchen zu kneten versteht aus Käserinde oder einen gabelförmigen Rettig menschenähnlich zu schnitzen, die Gestaltungskraft eines Thorwaldsen, oder die Meißelführung, mit der ein Dannecker entzückende Schönheit athmen läßt aus der dem Beschauer zugekehrten Fußsohle seiner Ariadne.

In gerechtem Unmuthe über die Blindheit, die hingebende Arbeit des ewig ringenden Künstlers nicht sehen zu wollen, die bedeutendsten Dichterleistungen einer mühelosen Zauberkraft zuzuschreiben und diese für das alleinige Wesen des Genies zu halten, hat einer unserer Großen ausgerufen: „Genie und immer nur Genie! Was ist Genie? Genie ist Fleiß!“

Es war das freilich ein Irrthum, aber als solcher in seinem Munde liebenswürdiger und ergreifender als die unanfechtbarsten und schönsten Weisheitssprüche, ein Irrthum naiven und selbstverleugnenden Verkennens jener angeborenen Sicherheit, welche dem Fleiße des Genies stets die Richtung giebt auf die erhabensten Ziele der Kunst und des Zeitalters. Es war von einer einfachen, aber fast vergessenen Wahrheit die losgerissene und dadurch falschgewordene Hälfte. Denn ohne das angeborene Auge, welches keine Erscheinung anders erblicken kann, als sub specie aeterni, als Abspiegelung und Gestaltung des Ewigen, wird auch der riesigste Fleiß mit seiner Kärrnerarbeit nichts zusammenbringen als bestenfalls Haufen von Steinen und Kies für künftig einmal bauende Könige.

An allen großen Dichtern ohne Ausnahme zeigt es die Geschichte der Poesie, daß nur die Zusammenfassung alles Höchsten und Besten im Streben und den Kenntnissen bedeutender Zeitalter, verbunden mit der Verarbeitung eines massenhaften Stoffes durch riesigen Fleiß, dichterische Leistungen von dauerndem Werthe möglich macht. Was also forderte unser Zeitalter der herrschenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_505.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)