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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

am meisten an. Die Kreuztragung, die Kreuzigung, wobei Christus doch mindestens fünfzehn Minuten am Kreuze hängt, und die Abnahme vom Kreuze sind mit starker körperlicher Anstrengung verbunden.

Die Petrus- und Johannesrollen sind mit zwei Hüttenarbeitern aus Brixlegg, Johann Georg Huber und Johann Eger, besetzt; sie bieten wenig Erwähnenswerthes. Eine Art Mephistorolle spielt ein Mitglied des hohen Rathes, Moloch mit Namen, der, an Geist den übrigen Rathsmitgliedern weit überlegen, in der Versammlung die besten Rathschläge zum Untergange Christi zu geben weiß, der den Judas gewinnt, den Pöbel gegen Christum aufhetzt, Joseph von Arimathia und Nicodemus, die gegen das Todesurtheil sprechen, so weit bringt, daß sie die Rathsversammlung verlassen, der endlich Christus am empfindlichsten zu verspotten weiß. Auch diese Rolle ist gut besetzt.

Unter den Frauenrollen steht die der Maria obenan. Sie wird gespielt von Marie Gutveger, einer Müllerstochter aus Brixlegg, und hat nur Schmerzensscenen zur Darstellung zu bringen. Eine hübsche Erscheinung ist die Magdalena. Eine Rolle, welche man in Oberammergau bei der letzten Vorstellung weggelassen hat, die der heiligen Veronica, welche nach der Legende dem Herrn auf dem Kreuzeswege den Schweiß vom Gesichte abtrocknete und später auf ihrem Tuche das Bild des dornengekrönten Hauptes Christi erblickte, ist in Brixlegg beibehalten worden. Auf die übrigen Rollen einzugehen, würde zu weit führen.

Manche Vorstellungen werden, wie in Ammergau, mit Aufbietung eines zahlreichen Personals gegeben. Ich erinnere nur an den Einzug, die Gefangennahme Christi, die Verhöre vor den Hohenpriestern und dem Pilatus, den Kreuzesgang Christi, wobei Greise, Weiber und Kinder jeden Alters auftreten. Besonders anschaulich sind: die Austreibung der Wechsler und Taubenkrämer, wobei den Letzteren die Tauben von der Bühne aus fortfliegen, die in parlamentarischer Ordnung verlaufenden Verhandlungen des hohen Raths, das Passahmahl und die Fußwaschung, zu welcher letzteren, da dabei wenig gesprochen wird, der Brixlegger Dirigent eine besondere musikalische Einlage componirt hat, und die Kreuzigung, die freilich in ihrem ganzen Verlaufe, wie sie dargestellt wird, nach den Gesetzen der Aesthetik nicht auf die Bühne kommen dürfte.

Bei einem Vergleiche der Brixlegger Passionsspiele mit denen zu Ammergau ergiebt sich das Resultat, daß erstere diesen noch nicht ganz ebenbürtig sind. Die Haltung der Spieler in Ammergau ist noch eine würdigere, das Zusammenspiel ein präciseres, die Auffassung der Rollen bei allen Spielen eine tiefere und innigere. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß das Brixlegger Passionsspiel deshalb noch gar nicht sehenswerth sei. Derjenige Besucher, der eine derartige Bühnenleistung noch nicht zu sehen Gelegenheit hatte, wird sicher ganz befriedigt das Theater zu Brixlegg verlassen. Nur muß er bei Anlegung des kritischen Maßstabes immer bedenken, daß die Spieler größtentheils Bauern sind und Kunstleistungen zur Darstellung bringen, die ihrer Entstehung nach dem Mittelalter angehören, die aber gerade deshalb mit dem gegenwärtigen Volksleben in Tirol in vollem Einklange stehen.[1]

Bernhard Heinzig.




Epische Briefe.[2]


Von Wilhelm Jordan.
I.


An Sie zunächst sind diese Briefe gerichtet, meine verehrten Zuhörer, die Sie während zwölf Jahren in hundertundeinunddreißig Städten den Rhapsodieen aus meinem Doppel-Epos von den Nibelungen, „Sigfridssage“ und „Hildebrant’s Heimkehr“ gelauscht haben. Viele von Ihnen werden sich erinnern, so Manches, was sie hier gedruckt finden, schon gehört zu haben. Denn überall ward ich ausgefragt nach den Quellen der Sage, die ich benutzt, nach den echten Resten unseres altheidnischen Epos, nach dem Verhältniß meiner Dichtung zum Nibelungenliede des Mittelalters, nach der Entstehung dieses letzteren, nach dem Wesen und Ursprunge des Epos überhaupt. Meinen gesprächsweise gegebenen Antworten folgte dann nicht selten die Aufforderung, diese Fragen aus der Wissenschaft der Poesie auch in öffentlichem Vortrage zu behandeln.

Eben diese in vielen Städten zwischen meine poetischen Recitationen eingeschalteten Prosavorträge will ich nun in etwas erweiterter Gestalt und so schlicht und faßlich, wie es der Gegenstand irgend erlaubt, vor Ihnen Allen zugleich wiederholen.

Hierzu habe ich mir die einzige auf Erden vorhandene Rednerbühne ausgebeten, die es mir möglich macht, auch ohne jahrelang wiederholte Reisen wieder vernommen zu werden bei allen Deutschen von der Düna und Newa bis jenseits des Rheins, von der Kieler Bucht bis an das Adriatische Meer, von den Berner Alpen bis zur Themse und dem Essenwalde Manchesters, und drüben, jenseits des Oceans vom Michigansee bis zum mexicanischen Meerbusen, vom Hudson und Schuylkill bis zum goldenen Thore der Bai von San Francisco. Denn an allen diesen Orten habe ich die Gartenlaube, das deutsche Weltblatt, dem zur Zeit keine andere Nation ein ähnliches an die Seite zu stellen hat, fast gleichmäßig verbreitet gefunden.

Es ist eine mit Wehmuth vermischte Beigabe meines schönen Berufs, von so manchem theuer und unvergeßlich gewordenen Anhänger und Gastfreund auf Nimmerwiedersehen zu scheiden. Diesen über die halbe Erde zerstreuten lieben Freunden und Ihnen allen, meine verehrten Zuhörer, zuvor meinen herzlichsten Dank und Gruß durch dieses Blatt – und nun zur Sache.




In meinen Rhapsodieen war ich bestrebt gewesen, Ihrer Einbildungskraft Schauplätze, Personen und Handlungen zu vergegenwärtigen, Ihr Ohr zu gewinnen durch Sprachmusik, Ihr Herz zu bewegen durch Mitleid, Furcht und Hoffnung.

Hier will ich verzichten auf dieses Poetenrecht und mich im schlichten Lehrton an Ihren Verstand wenden. Statt Ihnen das Epos selbst zum Genuß zu bieten, nehme ich in diesen Briefen Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch für dessen Geschichte. Nicht das fertige Kunstwerk, sondern die Vorbedingungen der Kunst, durch welche es zu Stande kommt, sollen Sie beschäftigen.

Diese Umkehrung meiner Aufgabe erinnert mich an eine vor vielen Jahren in Düsseldorf erlebte Scene. Mit einer noch jugendlichen Freundin hatte ich in der dortigen Gemäldeausstellung eben ein großes neues Bild betrachtet. Als wir fortgingen, sagte mir die junge Dame:

„Es ist mir unbegreiflich, wie man eine solche Menge von Gestalten aus seiner Phantasie heraufbeschwören kann. Vollends Zauberwerk dünkt es mir, daß der Maler die Erscheinungen seines Innern mit solcher Genauigkeit sieht, daß er sie mittelst einigen Farbstoffes zu umkleiden vermag mit dem Scheine handgreiflicher Wirklichkeit.“

Einiges Wunder,“ gab ich zur Antwort, „ist wirklich im Spiel. Was in jedem Kunstwerke nur angeborenes Talent hinzuthun kann, das läßt sich eben so wenig erschöpfend erklären, wie methodisch nachahmen. Aber einen anderen und nicht geringen Theil jener Zauberei kann ich Ihnen begreiflich machen. Begleiten Sie mich zu einem solchen Hexenmeister!“

Wir traten in das Atelier Tidemand’s, des berühmten norwegischen Meisters. Auf seiner Staffelei stand ein großes

  1. In einem zweiten Artikel werden wir Brixlegg und seine nähere Umgebung schildern und damit die Erklärung von Stadt und Veste Rattenberg, Burg Matzen etc. verbinden.
    Anmerk. d. Red.
  2. Wir glauben unsere Leser auf die hiermit eröffnete Serie von „Epischen Briefen“ aus der Feder Wilhelm Jordan’s noch besonders aufmerksam machen zu müssen. Der durch seine Epen bekannte Rhapsode kommt durch die Veröffentlichung dieser Briefe einem Versprechen nach, welches er gelegentlich seiner Vorlesungen in Deutschland, Rußland, der Schweiz, England und Amerika auf vielfaches Ansuchen seiner Zuhörer wiederholt gegeben hat.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_504.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)