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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Ein gefeiertes Wirthshaus.


Culturgeschichtsbild.


Es wird bald so weit kommen, daß wir in unseren lieben deutschen Landen mit allem Dampf des Riesenverkehrs der steigenden Vertheuerung des Lebens nicht entweichen können und uns manchmal nach einem stillen Winkel sehnen, um uns wenigstens geistig in Zeiten mit einfacheren Bedürfnissen zurück zu versetzen. Heute überkommt mich ein solches Gefühl, und um so mehr freue ich mich, durch eine äußere Veranlassung in eine Vergangenheit und an einen Ort geführt zu werden, wo Beides, der große, aber weit mühseligere Verkehr unserer Altvordern und zugleich die Einfachheit ihrer Reisezehrung, uns vor Augen tritt. Denn unsere Abbildung zeigt uns eines jener alten Wirthshäuser an den Heerstraßen, welche auf weiten Strecken die einzigen Gebirgsübergänge bildeten. Da mußten, in hoher Waldöde, Fürsten und Bettler unter demselben Dache fürlieb nehmen, da nächteten mit ihren Rossen die Fuhrleute wie die Ritter, da hielten der Pilger und der Landsknecht Rast, da waren Obdach und Mahlzeit für Hoch und Niedrig nicht so unterschieden, wie heutzutage, aber auch die Kosten nicht.

Ein solcher Gebirgsübergang war Jahrhunderte lang zwischen Thüringen und Franken die Straße über Judenbach und den Sattelpaß.

Judenbach ist ein langgestrecktes Gebirgsdorf des Meininger Oberlandes zwischen Coburg und Gräfenthal, zwei Stunden nordöstlich von der weltbekannten Spielwaarenfabrikstadt Sonneberg. „Sattelpaß“ nennt man eine tiefe brückenartige Einsenkung auf der Grenze von Thüringen und Franken, wo der Judenbacher Bergrücken an das Thüringer Hauptgebirg stößt. Durch die Natur des Gebirges war dies ein schwerer und zugleich leicht zu vertheidigender Uebergang und als solcher schon im Alterthum anerkannt. Die militärische Besetzung dieses Punktes hatte später nur die Bewachung des Thores und des Schlagbaums, die hier zum Behufe der Zoll- und Geleitseinnahme die Straße sperrten, zum Zweck. Der wachhaltende Corporal mußte über den dortigen Verkehr Wochenberichte nach Meiningen liefern. Wie naiv die Auffassung dieser Mannschaften über den Grad von Wichtigkeit der Ereignisse der Zeit war, verräth ein Bericht vom October 1806, wo es heißt: „In den verflossenen 8 Tagen ist nichts Neues vorgefallen. 25,000 Franzosen sind bloß durch den Paß gezogen und haben übrigens Mönchröden in Brand gesteckt.“ Das war also „nichts Neues“. – Beim Sattelpaß ist nach und nach ein Oertchen entstanden, das denselben Namen führt.

Ueber Ursprung und Einrichtung solcher Straßenwirthshäuser verdanke ich eine gründliche briefliche Belehrung einer anerkannten Autorität in thüringisch-fränkischer Landes- und Culturgeschichtsforschung, dem Geheimen Hofrath Professor G. Brückner in Meiningen, der in seiner „Landeskunde des Herzogthums Meiningen“ ein bis jetzt schwerlich übertroffenes Musterwerk in dieser literarischen Specialität geliefert hat. Seine Mittheilungen werden dankbar im Folgenden benutzt.

Schon unter den Römern führten bekanntlich Handelszüge vom Süden Deutschlands nach dessen Norden. Mit Naturnothwendigkeit bildeten sich hierbei und hierfür feste Verkehrsstromwege mit festen Stationen. Eine dieser Verkehrsbahnen führte von Nürnberg nach Erfurt und stand schon unter dem besonderen Schutze Kaiser Karl’s des Großen, durch welchen letztere Stadt im Jahre 805 zum Haupthandels- und Stapelplatz für die Sorben bestimmt und mit sehr fördersamen Privilegien und Stapelgerechtigkeiten bedacht worden war; von da aus brach der Handelszug sich weitere Bahnen nach Norddeutschland und zu den nordischen Meeren.

Von dieser Heer- und Handelsstraße ging ein Strang, von Bamberg aus abgezweigt, nach Coburg und von da über den südöstlichen Thüringerwald. Auf den Gebirgsübergängen, namentlich auf den Uebergängen über hohe breitrückige Gebirge, wie dies im südöstlichen Thüringerwalde der Fall war und noch ist, war die Errichtung von Schutzpunkten und Ruhorten mit zweckentsprechenden Wirthshäusern ein zwingendes Bedürfniß. Das Zweckentsprechende der Einrichtung derselben war natürlich bedingt durch das Bedürfniß jener Zeit, und darum muß ein Einblick in ihr Inneres und ihre Umgebung uns ganz besonders anziehen.

Den Hauptnerv solcher Straßenwirthshäuser bildete ein quadratischer Hofraum mit seitlichen Pferde- und Viehställen und Futterscheunen, denn hier lag der Hochquell der Einnahmen. Es war eine alte Heerstraßenregel: die Straßenthiere gehen den Passanten vor. Diese Regel, der sich Kaiser und Wagenknechte fügten, hat sich in ihrer Menschlichkeit und Rentabilität bis jetzt erhalten, wie man in jedem Wirthshaus, wo Fuhrleute einkehren, beobachten kann. In zweiter Linie kam erst das Gasthaus, das sich durch ein Thierschild oder das Drudenflinner als ein solches kennzeichnete. Der niedrige Hauptstock desselben bestand aus Fachwerk, das hohe spitzzulaufende Dach bedeckten grauweißliche Schindeln. In diesem (unteren) Stocke betrat man zuerst den Hausern, das heißt einen geräumigen Vorplatz mit festgestampftem Lehmfußboden. Von diesem Hausern aus führten Thüren in die einzige und darum sehr große Gaststube, dann in einige Kammern und Nebengemächer und in die nach ihrer Wichtigkeit würdig ausgeweitete Küche. Auf der Treppe nach oben gelangte man wieder zu einem geräumigen Vorplatze mit Thüren in eine Mansardengaststube und mehrere Bodenkammern.

In der Wirths- oder Gaststube fallen uns zunächst die kleinen Schiebefenster und der große Ofen auf, zwei Hausstücke, welche gegenwärtig die entgegengesetzten Dimensionen angenommen haben. Die Größe des Ofens war schon dadurch gerechtfertigt, daß er der einzige im ganzen Hause war; alle übrigen Räume, selbst wenn das Haus ein zweites Stock und in demselben eine „gute Stube“ für „die großen Herren“ besaß, waren nicht heizbar. Desto stattlichere Reisigbündel, Holzscheite und Baumknürze nahm der schwarz-, manchmal auch grünkachelige Riese in sich auf; hatte er doch nicht bloß Menschen zu wärmen, sondern auch ihre nassen Gewänder zu trocknen, denn dazu waren die Stangen da, die oben um den Ofen herum in ihren an der Decke befestigten Leisten hingen. Um den Ofen in Sitzhöhe zog sich die Ofenbank, deren Lehne die warmen Kacheln selber waren; aber an den Wänden hin liefen die Wandbänke mit getäfelten Lehnen und vor denselben standen die Langtische mit weißgescheuerten Tischplatten auf ihren stämmigen, gekreuzten Beinen mit den durch Querhölzer stark verschränkten Füßen. Die ebenbürtigen Stühle mit den so oft verhängnißvoll gewordenen wuchtigen Beinen sind bekannt genug. An der Gegenwand der Hauptfront der Stube befand sich das meist dreifachige Kammbrett, auf welchem die zur Begastung dienenden Trinkgeräte paradirten, vornehmlich die ansehnlichen Bierkannen in Gestalt bemalter, weiß und blau geflammter Steinkrüge mit Zinndeckeln, Weingläser in hoher Kelchform, ferner zinnerne und irdene mit Reimsprüchen auf dem Rande verzierte Teller und Schüsseln. Unter dem Kammbrette machte der lederne Großvaterstuhl sich breit, auf welchem der Gastwirth der Ruhe pflegte.

In der Küche waltete die Wirthin, stolz auf ihre Vorrathsschränke, namentlich auf den Küchenschrank mit den Geschirren von Kupfer und Zinn, und auf ihren Herd mit dem großen Koch-, Schlacht- und Waschkessel. – Nicht weniger stolz war sie aber auch auf ihre Betten im Herrenstübchen. Befaßte dasselbe auch nur wenige Mobilien, so fielen die zwei großen zweischläferigen Himmelbetten mit ihren festgefüllten und hochaufgebauten Unter- und Deckbetten desto mehr in’s Auge. Für Leute, die nicht zu den „großen Herren“ gehörten, standen in den Kammern Betten bereit, und in Zeiten starker Einkehr mußten auch, besonders für die Wanderer aus den unteren Volksschichten, Strohbündel auf dem Fußboden die Bänke der Wirthsstube oder Heuboden und Pferdestall zum Nachtlager gut thun. Auf diese Weise konnte ein von außen unansehnliches Gebäude eine große Anzahl von Menschen zugleich beherbergen.

Gerade so war auch das alte Judenbacher Wirthshaus beschaffen. Was mag im Laufe der Zeiten auf den hohen Wogen des Verkehrs und des Völkerschicksals hier vorübergezogen sein! Welcher Reichthum von socialen Bildern thut sich vor uns auf! Kriegsschaaren und Waarenzüge, Magnaten und Vasallen, Kaufleute und Priester, Bärenführer und Abenteurer zogen wie im Mittelalter, so in der spätern Zeit von Norden nach Süden, von Süden nach Norden durch Judenbach, bald allda übernachtend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_486.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)