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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

gesucht wurden, begab ich mich, nach vorheriger Erlangung des Leipziger Doctorgrades, zu Anfang 1831 nach Warschau, erhielt hier als sogenannter Stabsarzt eine Abtheilung für innere und äußere Krankheiten in einem der größten Hospitäler und fand so Gelegenheit, die Cholera, den Typhus, Entzündungen und Verwundungen aller Art sattsam kennen zu lernen, sowie zahlreiche Operationen auszuführen. Nach der Uebergabe Warschaus an die Russen diente ich bei diesen noch einige Zeit in derselben Stellung als Stabsarzt und kehrte Ende 1831 nach Leipzig zurück. Hier habilitirte ich mich als Privatdocent und praktischer Arzt, wurde aber sehr bald (zu Anfang 1833) durch den Tod meines Vaters, welcher außer meiner Mutter und mir noch vier großentheils unerzogene Kinder ganz mittellos hinterließ, vorzugsweise in die akademische und leider auch in die literarische Laufbahn gedrängt, um die Hinterlassenen erhalten und die kleineren Geschwister erziehen zu können. Daß ich auf diese Weise schon im vierundzwanzigsten Lebensjahre die schweren Pflichten eines Versorgers einer größeren Familie übernehmen mußte und ich diese Pflichten durch zahlreiche Examinatorien und literarische Arbeiten auch zu erfüllen im Stande war, das scheint in mir einen ziemlichen Grad von Vertrauen auf eigene Kraft ausgebildet zu haben, ließ mich aber freilich nicht die Zeit und Geldmittel gewinnen, um wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen und mir dadurch eine Stellung in der Wissenschaft erringen zu können. Denn so eingebildet bin ich nie gewesen, zu glauben, daß meine aus der Sorge um’s tägliche Brod entstandenen anatomischen Compendien (das Handbuch, das Taschenbuch und der Handatlas) der Anatomie – obschon sie in kurzer Zeit vier Auflagen[1] erlebten, für das Studium der Anatomie sehr brauchbar erfunden und in mehrere Sprachen übersetzt wurden – mir einen besonderen Namen unter den Männern der Wissenschaft gemacht hätten. Nur so viel kann ich, ohne anmaßend zu sein, von mir behaupten, daß ich durch das jahrelange Examinatoriengeben die Fähigkeit gut zu dociren erlangt habe.

Auch als mir 1839 eine außerordentliche Professur der Medicin (in den ersten Jahren ohne Gehalt, später mit einem kleinen Gehalte) ertheilt wurde, konnte ich die Wissenschaft nicht anders als zu meiner eigenen Fortbildung und zur Erhaltung meiner durch meine Verheirathung vergrößerten Familie betreiben.

So arbeitete ich, Examinatorien gebend und schriftstellernd, unter Sorge und Noth still und geduldig bis zum Jahre 1845, wo meine Ruhe und Duldsamkeit plötzlich einen gewaltigen Stoß dadurch erlitt, daß man mir die vorher angetragene und zugesicherte Stelle eines pathologischen Anatomen, auf welche hin ich längere Zeit tüchtig losgearbeitet hatte, ohne Weiteres und zu Gunsten eines jungen Begünstigten versagen wollte. Ich erlangte diese Stellung zwar, doch erst nach Bekämpfung verschiedener Hindernisse, wobei ich freilich mehrere Verstöße gegen die gute Lebensart und Artigkeit zu machen gezwungen war. Ich suchte mich nun in Wien und Prag ebensowohl in der pathologischen Anatomie wie in der Diagnostik so weit auszubilden, daß ich in diesen Zweigen der Medicin in Leipzig als Lehrer aufzutreten mich nicht zu scheuen brauchte, wie meine pathologisch-anatomischen und diagnostischen Werke allenfalls beweisen.

Bei dem Besuche der genannten österreichischen Universitäten und Hospitäler hatte ich nun aber einsehen lernen, wie weit wir damals in Leipzig in Bezug auf die praktischen Zweige der Medicin noch zurück waren, und, einmal aus meiner bescheidenen Ruhe aufgerüttelt, unternahm ich es, trotz aller Anfeindungen und Verdächtigungen, trotz der Drohungen mit Absetzung und bedeutender Geldopfer für Druckschriften, in noch vormärzlicher Zeit, wenn nicht als Reformator der Medicin, doch wenigstens als Vorkämpfer für die neuere aufzutreten, ohne aber dabei für mich selbst eine bessere Stellung erkämpfen zu wollen. Und es gelang mir nicht blos, der sogenannten physiologischen Medicin Eingang zu verschaffen, sondern auch zur Berufung Oppolzer’s nach Leipzig als Professor der Klinik und Primärarzt des Stadtkrankenhauses beizutragen. Jetzt war ich nun zwar zur Ruhe, aber nicht zu besseren Einnahmen gelangt, konnte noch ebenso wenig wie früher nur für die Wissenschaft leben und wirken und mußte fortwährend von Freund und Feind hören, daß ich bei meinen erfolgreichen reformatorischen Bestrebungen „doch nicht so grob zu sein“ und „das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten gebraucht hätte“. Als ob man Krebsschäden mit Rosenwasser curiren könnte!

Mit Oppolzer in sehr freundschaftlichem Verhältnisse lebend, vertrat ich während der mehrmaligen Abwesenheit desselben dessen Stelle, leitete während der beiden Cholera-Epidemien die Behandlung der Kranken im Hospitale und wurde nach der Berufung Oppolzer’s nach Wien vom Leipziger Stadtrathe zum interimistischen Primärarzte des Stadtkrankenhauses ernannt. Als solcher nahm ich in klinischen, streng physiologischen Vorträgen Gelegenheit, den Studirenden die von mir im Warschauer Hospitale gemachten Erfahrungen über die Heilprocesse der Natur bei Krankheiten mitzutheilen und zu zeigen, wie die allermeisten Krankheiten auch ohne die dagegen empfohlenen Arzneimittel, nur bei gehörigem diätetischem Verfahren heilen.

Durch die Besetzung der klinischen Professur in der Person Wunderlich’s ward ich natürlich von dieser praktisch-medicinischen Wirksamkeit im Hospitale wieder entfernt und auf die pathologische Anatomie (mit Sectionen und physikalischer Diagnostik) verwiesen, doch ließ mich Privat- und Consiliarpraxis nie zum bloßen Theoretiker werden (oder, wie manche meiner Collegen behaupteten, „zwar zum guten Diagnostiker, aber schlechten Therapeuten“). Von zeitraubenden wissenschaftlichen Entdeckungen konnte bei meiner pecuniären Lage noch immer keine Rede sein, da bei den gewaltigen Fortschritten der Medicin und Naturwissenschaften, sowie dem kostspieligen Leben in Leipzig schon viel dazu gehört, in der Wissenschaft und im bürgerlichen Leben seine Stellung gehörig zu behaupten. Die Erfahrungen aber, welche ich seit Jahren am Sectionstische und Krankenbette gemacht und die ich in meinem Lehrbuche der Diagnostik niedergelegt habe, werden, in Anbetracht meiner früheren compilatorischen Arbeiten, auch von Solchen entweder gar nicht beachtet oder über die Achsel angesehen, die wahrlich keine Ursache dazu hätten, wenn sie sich auch für Heroen in der Wissenschaft halten. Denn wer heutzutage durch das Mikroskop eine neue Zelle u. dgl. entdeckt oder mit der Redensart „das ist so“ und „das habe ich öfters gesehen“ Schwachköpfen zu imponiren versteht, wird gewöhnlich für etwas Rechtes angesehen.

Durch wissenschaftliche Entdeckungen zu nützen, versagten und versagen mir sonach meine Verhältnisse; es ging deshalb mein Streben dahin, wenigstens als Lehrer, aber nicht blos der Studirenden, sondern auch der Laien, durch Wort und Schrift nach meinen Kräften nützlich zu sein, da in mir die Ueberzeugung fest wurzelt, daß Krankheiten in der Zukunft auch nicht besser als jetzt und am allerwenigsten durch Arzneimittel geheilt, wohl aber recht gut durch eine naturgemäße Lebensweise verhütet werden können, und daß durch Belehrung des Volkes (vorzüglich der Jugend durch die Mütter und Lehrer) über die Natur und den menschlichen Körper ein verständigeres, willenskräftigeres, weniger abergläubisches, moralisch besseres und gesünderes, kurz ein glücklicheres Menschengeschlecht als das jetzige herangezogen werden könne.

So bin ich denn bei sanguinisch-cholerischem Temperamente und bei einer auf die Naturwissenschaften gegründeten materialistischen Weltanschauung durch meine Lebensumstände zu einem ziemlich willenskräftigen (nach Manchen „starrköpfigen“), protectionslosen, complimentenfeindlichen (nach Manchen „groben und rücksichtslosen“), mäßig-ehrgeizigen und uneigennützigen Manne geworden, der sich nicht so leicht imponiren und einschüchtern läßt, und dessen ganzes Streben dahin geht: durch Aufklärung und Belehrung zur Verbesserung und zum Glücklichwerden des Menschengeschlechts etwas beizutragen, sich selbst aber, so weit es noch möglich ist, zur wahren Humanität zu erziehen. Freilich verstehe ich unter wahrer Humanität nicht etwa Duldsamkeit und Aufopferung in jeder Beziehung, sondern nur vernunftgemäße und wirklich frommende Menschenliebe ohne krankhafte Sentimentalität. Daß ich unter den wissenschaftlichen Forschern einen Platz nicht habe, weiß ich, doch bin ich bei den Medicin Studirenden durch meine Lehrbücher und beim Laien durch meine populär-medicinischen Vorträge und Aufsätze, sowie bei den Turnern durch Gründung des Leipziger Turnvereins, nicht unbekannt und nutzlos geblieben. Wenn ich mich 1848 von allem politischen Treiben entfernt hielt, obschon ich früher bei der Leipziger Communalgarde eine höhere Charge und auch die Stelle eines

  1. Das Taschenbuch noch 1864 die fünfte, und der Atlas 1871 die sechste.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_480.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)