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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

verlieh dem Individuum diese stolze und würdige Sprache; sie war unter Friedrich Wilhelm dem Ersten nicht an der Zeit; sie war es auch noch nicht unter seinem großen Sohne; was militärische Disciplin anbelangt, so hielt dieser die Zügel noch straffer, als es sein Vater gethan hatte. Er hatte aus dem Stamme des Lieblingsregiments seines Vaters und aus dem Regimente, dessen Chef er als Kronprinz war, ein Garde-Grenadierbataillon gebildet. Das Bataillon, etwa achthundert Mann stark, war eine von aller Berührung mit der übrigen Garnison in sich abgeschlossene Truppe; es waren ihm für seinen Bezirk gewisse Straßen der Stadt angewiesen, und diese durfte kein Grenadier ohne Paß verlassen. In das Freie gelangte er nur dann, wenn er zum Exerciren marschirte. Diese Soldaten waren die Prätorianer der preußischen Armee, und wenn sie nicht in Reihe und Glied standen, so war ihnen jede Freiheit, ausgenommen die, ihren Bataillonsbezirk zu verlassen, ja selbst jede Unart erlaubt. Um sich die tödtliche Langeweile zu vertreiben, schlugen sie auf der Straße Ball, führten sie dramatische Vorstellungen auf, tanzten, predigten, musicirten, stellten sie Maskeraden an.

Sie durften nicht verheirathet sein, aber wenn einem Grenadier auf der Straße ein Mädchen begegnete und sie ihm gefiel, so brauchte sich der Betreffende nur bei dem Commandeur seiner Compagnie zu melden und sich einen Zettel geben zu lassen des Inhalts: „Der Grenadier N. N. hat die Erlaubniß, die X. X. als Geliebte zu sich zu nehmen.“ Dann mußte – sehr bezeichnend für die damalige brüske Militärwirthschaft – das Waisenhaus seinen weiblichen Zögling, der Wirth sein Dienstmädchen hingeben, so lange es dem Grenadier gefiel, sie bei sich zu behalten; nachher lieferte er sie wieder zurück. Die Kinder, die einer solchen an’s Mormonenhafte erinnernden Verbindung entsprossen, wurden in das Waisenhaus geschickt. Nicht selten aber kam es auch vor, daß derartige Verhältnisse durch das ganze Leben dauerten.

War einer dieser Grenadiere wegen Alters oder wegen Gebrechlichkeit dienstunbrauchbar geworden, dann wurde er nach Werder versetzt. Die Havelinsel war das Invalidenhaus dieses Garde-Grenadierbataillons; hier bezogen die Ausrangirten die Wohnungen, die schon Friedrich Wilhelm der Erste für seine Riesen hatte erbauen lassen Der Gemeine bekam monatlich vier Thaler Tractament und für jede Bataille, die er mitgemacht hatte, einen Thaler Zulage, und auch Montur, aber nicht die reiche des activen Soldaten. Vom Dienste war er nicht ganz befreit. Es waren dreihundert Invaliden hier versammelt, und an schönen sonnigen Tagen saßen sie vor den Häusern des Städtchens in Gruppen beisammen und erzählten sich wohl von der Affaire bei Collin, wo das Bataillon von der sächsischen Cavallerie fast niedergehauen, und doch nicht gewichen war; von der Schlacht bei Mollwitz, wo es zwölfmal mit Pelotons in eben der Ordnung wie auf dem Exercirplatze gefeuert hatte, und wie der König das Gedächtniß dieses Tages immer dadurch feierte, daß er die Mannschaft ausrücken und weiter nichts machen ließ, als zweimal mit Peloton chargiren, und wie er dabei zu sagen pflegte: „So machten es Eure Vorfahren bei Mollwitz.“ Dann mag auch wohl in diesen Tagen des Abschieds vom Leben im Herzen die Sehnsucht nach Heimath und Freiheit wieder aufgewacht sein, bis dann ab und zu über den stillen Wasserspiegel Pelotonfeuer wie bei Mollwitz ertönten, zum Zeichen, daß Einer der Tapferen in sechs Fuß Erde die Heimath und die Freiheit gefunden habe, die kein Friedrich der Große ihm vorenthalten konnte.

Nun sieht man keinen Veteranen mehr, gebeugt von des Lebens Last, mühsam auf den Straßen dahinhumpeln. Nur noch der Garnisonkirchhof erinnert an den Militärdespotismus des achtzehnten Jahrhunderts. Man kann nicht leugnen, daß dieses Invalidencorps für den Ort und seine Einwohner eine bedeutende Einnahmequelle war, aber eine jener trügerischen, die in einer vorübergehenden Institution und deren Zeitperiode, und nicht in natürlichen Verhältnissen wurzeln, und wodurch die Einwohner jedenfalls abgehalten wurden, die Kraft und den Reichthum, der in ihrem namentlich für die Zucht edler Obstsorten sich eignenden Boden beruht, zu erkennen und auszunutzen.

Das ganze Terrain um Werder ist Obstpflanzung. Acker- und Wiesenland ist nur wenig vorhanden. Wenn ein Einwohner auch nur einen kleinen Hof besitzt, so kann man gewiß sein, daß er denselben zur Hälfte zur Obstzucht benutzt. Der Boden, wenn auch vorzugsweise nur aus Sand bestehend, ist für diese Cultur vorzüglich geeignet, namentlich aber möchte die durch den großen Reichthum an Wasser erzeugte Feuchtigkeit der Luft das Geheimniß enthüllen, daß hier in geschützten Lagen die edelsten Fruchtarten gedeihen, und zwar in einer Form, einem Wohlgeschmacke, wie solche sonst nur den Früchten des Südens eigen sind. Früher baute der Werderaner ausschließlich Wein, aber diesen Zweig des Obstbaues beginnt er in neuester Zeit fast ganz ausgehen zu lassen; die ungarischen Trauben, die gegenwärtig in Masse nach Berlin geführt werden, machen ihm zuviel Concurrenz, und da der Ertrag in Anbetracht der Mühe und Kosten zu unsicher ist, so giebt er sich vorzüglich mit der Kirschen- und Erdbeercultur ab. Er bringt auch Aprikosen, Pfirsiche, Birnen, Aepfel, Pflaumen hervor – von letzteren aber nur die Edelpflaume; die gewöhnliche blaue Pflaume gedeiht um Werder nicht –, Kirschen und Erdbeeren sind dagegen fast ausschließlich seine Domäne. Diese liefert Werder in ausgezeichneter Qualität. Aber wie mühen sich die Leute im Schweiße ihre Angesichts auch ab, um diese herrlichen, saftigen Früchte zu erzeugen! Schon im Februar, sobald der Schnee geschmolzen, beginnt in den Obstgärten die Arbeit, die Bäume mit Dünger zu umlegen, sie von Moos zu reinigen, den Boden zu schurfen und zu lockern, und namentlich den gefährlichsten Feind des Obstbaumes, die Wickelraupe, zu entfernen, und das geht so den ganzen Frühling und Sommer fort, kaum daß in dieser Jahreszeit der Sonntag den Leuten einige Ruhestunden bringt. Es ist ein unablässiges Ringen mit der Natur, um dem Boden seine kostbarsten Gaben abzugewinnen. Die Blüthezeit der Kirschen und Erdbeeren ist eine Existenzfrage für den ganzen Ort. Sind die vierzehn Tage dieser Blüthekrisis glücklich vorüber, dann herrscht Jubel und Freude unter den Einwohnern, dann ist die Ernte auch gesichert, dann kommt aus Berlin der Segen des Mansfelder Bergbaues in reicher Fülle, dann braucht man für den Winter nicht weiter zu sorgen, dann werden nach sauren Sommerwochen frohe Winterfeste gefeiert und Musik und Tanz hören in dem Städtchen den ganzen Winter gar nicht mehr auf.

Dort in der Ferne zeigt sich ein schwarzer Punkt; derselbe kommt näher und näher, wächst und nimmt vor unsern Augen die Gestalt eines Dampfschiffes an, durch dessen Schornstein dicke Rauchwolken in den reinen Aether emporsteigen. So wie der Dampfer in Sicht der Kirche ist, dröhnt über das Wasser ein Böllerschuß. Das ist das Zeichen, daß der Obstdampfer, der durch gemeinsame Mittel der Einwohner angeschafft worden ist, von Berlin zurück ist und daß man sich in den Bergen und Obstgärten sputen möge. Es ist jetzt drei Uhr, um sechs Uhr Abends muß die neue Obstfracht eingeladen sein. Um diese Stunde geht der Dampfer wieder nach Berlin zurück. Nun wird es rings in den Geländen, in den Gärten auf den Wegen und Straßen, die auf die Landungsbrücke führen, lebendig von Karren und Wagen, die mit Hunden, Kühen, Pferden und Menschen bespannt sind, und die alle nach der Brücke sich bewegen; nun thürmen sich dort die Tienen, die kleinen hölzernen Gefäße, in welche das Obst verpackt ist, von Viertelstunde zu Viertelstunde auf; nun sind Hunderte von Händen beschäftigt, dieselben, deren Zahl im Anfang Juli oft bis auf zehntausend steigt, in die beiden durch Dampfkraft gezogenen Schleppkähne einzuladen. Um sechs Uhr ist Alles fertig, jede einzelne Tiene im Bureau gebucht; die Männer, die Waare auf dem Schiffe haben, kehren zu ihrer Arbeit in den Obstgärten zurück, die Weiber dagegen folgen ihren Tienen nach Berlin. Mit einem Kofferchen mit Lebensmitteln und mit einem Kopfkissen unter dem Arme quartieren sie sich bei gutem Wetter auf dem Verdeck des Dampfschiffes ein; sobald aber die Sterne aufziehen oder Regen eintritt, suchen sie die Cajüte auf, wo sie übernachten. Gegen Morgen vier, fünf Uhr läuft das Dampfschiff in den Humboldtshafen von Berlin ein; die Schleppkähne werden abgehakt und nach der Friedrichsbrücke weitergeschoben. Dort ist die Börse für den Obsthandel; dort empfangen die Berliner Höker die neue Waare, und wenn wir, in Berlin angekommen, am nächsten Tag ein gutes Diner machen und man uns zum Dessert Kirschen und Erdbeeren servirt, dann können wir sicher sein, daß es Früchte aus der märkischen Isola Bella sind.

Georg Horn.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_442.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)