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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.


6. Die Mätzchenmacher.


Mätzchenmacher?!

Zunächst bitte ich um Verzeihung für diesen dem Rothwälsch der Theatersprache entnommenen Ausdruck. Ich wagte es, ihn zu benutzen, weil ein bezeichnenderer schwerlich zu finden sein dürfte. Das zu einer Hälfte der französischen Sprache und zur andern dem Deutschen ungehörige Hauptwort „Nüancenjäger“ erschöpft den Begriff nicht vollkommen, denn die Nüance ist in der Kunst nicht nur ein Erlaubtes, sondern auch ein Nothwendiges. Das Mätzchen hingegen ist – vom Standpunkte einer reinen Kunstanschauung aus – weder nothwendig noch erlaubt. Das Nüanciren und die Nüance sind künstlerisch, und selbst ein kleines Zuviel in dieser Beziehung involvirt noch nicht den Begriff des Unkünstlerischen, des Unästhetischen. Das Mätzchen aber ist auf alle Fälle verwerflich und jeder dramatische Künstler, dem seine Kunst heilig ist, verwirft es auch. Der Nüancenjäger wäre also als Künster immer noch anzuerkennen; der Mätzchenmacher ist eben keiner.

In der Naturgeschichte des deutschen Komödianten verdient auch diese Species sogenannten Künstlerthums, die sich in den letzten Decennien merklich vermehrt hat, ein eigenes, wenn auch kleines Capitel. Man hat von jeher viel darüber gestritten, wer denn eigentlich die meiste Schuld an dem Verfalle des deutschen Theaters trage, ob die Dichter, die Darsteller oder das Publicum. Jeder betheiligte Factor wehrt sich möglichst gegen die Beschuldigung, und es liegt in der Natur der Sache, daß man niemals endgültig wird entscheiden können, wer denn eigentlich das Kainszeichen zu tragen verdient. Die Wahrheit wird auch hier, wie so häufig, in der Mitte liegen. Wenn dem Publicum eine Schuld beizumessen ist, so gehört sie jedenfalls weniger zu den Begehungs-, als vielmehr zu den Unterlassungssünden. Es ist erstaunlich, was sich das deutsche Publicum selbst von Kunstinstituten und Schauspielern bieten läßt, die nach Maßgabe der Verhältnisse entschieden verpflichtet wären, Anderes und zwar Besseres zu geben. Dieser Mangel an gesinnungstüchtigem Oppositionsgeist ist die eigentliche Todsünde des deutschen Publicums seinem Theater gegenüber. Das passive Zuschauerthum hat der dramatischen Kunst sehr viel geschadet. Eine durchgängig kühl ablehnende Opposition des wahrhaft kunstfreundlichen und kunstverständigen Auditoriums gegen Schlechtes und Mattes würde, wenn von jeher energischer geübt, von den besten Folgen für die Entwickelung der deutschen Bühne gewesen sein, und manches bedeutende Talent, das bei seinen ersten Bizarrerien statt dem donnernden Applause einem stillen und kühlen Verweise begegnet wäre, zählte heute nicht zu den Virtuosen und ihren schlimmsten Consequenzlern, den Mätzchenmachern.

Was ist also ein Mätzchenmacher?

Ein Künstler im dramatischen Berufe soll seine höchste Ehre darein setzen, der pietätvolle Ausleger und, wenn nöthig, der verständnißvolle Ergänzer des Dichters zu sein. Die Wahrheit ist sein höchstes Ziel, denn nur der antikisirende Hyper-Idealismus, der gottlob nunmehr zu den überwundenen Standpunkten gehört, vindicirte dem Kunstwerke die absolute Schönheit. Ein dramatischer Künstler soll den darzustellenden Charakter ganz und voll erfassen, liebevoll aufnehmen und hegen, und sein Bestes daran setzen, ihn vor den Lampen würdig zu verkörpern. Es wird’s Keiner in dem schweren Berufe der Menschendarstellung zum vollgültig Guten bringen, dem der Kopf nicht klar und das Herz nicht heiß ist, den nicht jede wahrhaft bedeutende Rolle zur Aufbietung aller Kräfte hinreißt, und wenn ein Stück Leben mitgehen sollte. – So der Künstler.

Der Mätzchenmacher dagegen macht sich die Sache viel leichter. Er nimmt Buch und Rolle her und spielt zunächst möglichst nur die Aufgaben, die „seiner Individualität zusagen“ oder ihm wie „auf den Leib geschrieben sind“. Hat er aber besonderen Appetit auf eine Partie, die seinem Können eigentlich fern liegt, so „macht er sich die Rolle zurecht“, das heißt ohne Rücksicht auf den Dichter und dessen Absichten modelt er sich den Charakter oft in einem ganz entgegengesetzten Sinne. Ganze Scenen werden aus purem Egoismus und ohne sonstige Nothwendigkeit verlegt oder gar gestrichen, brillante „Auftritte“ und „Abgänge“ werden geschaffen und das Studium der Rolle gipfelt in dem Streben, an möglichst viel Stellen möglichst viel mehr oder weniger motivirte „Mätzchen“ loszulassen.

Das sind die Mätzchenmacher, die es sehr gern hören, wenn sie die oberflächliche Tageskritik „denkende Künstler“ oder „feinfühlige Darsteller“ nennt.

Consequenzler des Virtuosenthums nannte ich sie oben, und das bleibt mir zu beweisen. Es liegt in der Natur der Sache, daß jene in Kunst machenden Geschäftsreisenden, welche die größeren Städte des deutschen Vaterlandes in ziemlich regelmäßig wiederkehrenden Zeiträumen als „Gäste“ der betreffenden Theater besuchen, ungemein leicht in einen Fehler verfallen, der die Wurzel alles Uebels in dieser Beziehung ist, nämlich in den Fehler: um jeden Preis neu sein zu wollen. Das ist ganz natürlich. Das Repertoire dieser gastspielreisenden Herren und Damen ist stets ein ziemlich beschränktes, und neue Partien in dasselbe aufzunehmen sind die Herrschaften meist zu bequem. Nach einem kürzeren oder längeren Zeitraume nahen sie sich wieder demselben Publicum mit denselben Rollen. Was nun thun, um neues Interesse einzuflößen? – Die schon einmal am Orte gespielte Rolle wird umgemodelt. In rein äußerlicher Beziehung werden Maske und Costüm geändert, und in Bezug auf die eigentliche Verkörperung des Charakters wird nach neuen Effecten, nach noch nicht bekannten, wirksamen Details gesucht. Gleichviel ob diese Effecte und Einzelheiten der Aufgabe wirklich entsprechen oder nicht – wenn sie eben nur neu und originell sind. Das große Publicum wird für den Moment gepackt und hat auch während der Spanne Zeit, die den Zwischenacten zur Disposition gestellt ist, gar nicht Gelegenheit, sich in Reflexionen über die Wahrheit des Gegebenen zu ergehen. Im Gegentheil – man dankt dem gefeierten Künstler, daß er noch fortwährend „die Feile an seine herrlichen Gebilde lege“. Derartiges thun Matadore der dramatischen Kunst, und das Schlimme bei der Sache ist, daß Diejenigen, die keine Matadore sind, diese so erfolgreiche Art und Weise nachzuahmen suchen.

Nachdem wir auch in politischer Beziehung eine Nation geworden sind, werden wir wohl früher oder später daran denken müssen, eine Nationalbühne – wenn auch im modernen Sinne des Wortes – zu schaffen. Es ist dies nur eine Frage der Zeit, und sie tritt immer und immer wieder in den Vordergrund des Kunstlebens. Eine heilige Pflicht des großen, kunstsinnigen Publicums ist es, mitzuwirken an dem Zustandekommen dieser Nationalbühne, und damit es demselben möglich werde, diese Pflicht zu erfüllen, ist es heilsam und nöthig, daß von vielen Schattenpartien der deutschen Bühne der Schleier hinweggezogen werde, der sie bis jetzt mit mehr als christlicher Nächstenliebe zudeckte. Dadurch wird dem der ausübenden Kunst ferner stehenden Theile des Volkes Gelegenheit geboten, die Spreu von dem Weizen zu sondern; dadurch nur kann es auch in weiteren Kreisen zum Bewußtsein gebracht werden, daß die Auswüchse eines falsch verstandenen Künstlerthums zum Vortheile des Ganzen mit energischer Opposition bekämpft werden müssen.

Das ist der Grund, warum ich hiermit dem großen Publicum die Mätzchenmacher als eine der Schattenseiten des heutigen dramatischen Kunstlebens zeichne und in negativem Sinne empfehle. Die Thatsachen, die ich erzähle, verbürge ich. Die betheiligten Namen der meist noch lebenden Darsteller verschweige ich, denn nicht um die einzelne Persönlichkeit, sondern um die Sache handelt es sich.

Eine unserer bedeutendsten Darstellerinnen des Goethe’schen Gretchen gastirte in dieser Rolle in einer größeren Provinzialstadt Mitteldeutschlands. Da man sie am folgenden Morgen im Hoftheater zu X., wo sich die Dame im stabilen Engagement befand, wieder in der Probe erwartete und der Eisenbahnzug, der allein sie rechtzeitig zurückführen konnte, bald nach zehn Uhr Abends abging, so resolvirte sie kurz: „daß sie nur dann auftreten werde, wenn der Director den Goethe’schen Faust mit der Kirchgangsscene Gretchens beginnen lasse.“ Nach der gewöhnlichen Bühneneinrichtung ist dies bekanntlich der dritte Act des Werkes. Faust begann also – horrible dictu! – mit dem dritten Acte; das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_421.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)