Seite:Die Gartenlaube (1874) 402.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

der Frauen verwechselt werden darf. In den von der Natur und der Gesellschaft gegebenen Schranken sucht derselbe seine Aufgabe zu lösen, indem er durch eine zweckmäßige Bildung der Mädchen und Frauen neue, ihnen bisher unzugängliche Kreise einer lohnenden Thätigkeit erschließt, ihnen durch die eigene Arbeit eine selbstständige, unabhängige Stellung giebt, ohne sie deshalb der Familie und ihrer wahren Bestimmung zu entziehen. Er bietet den Verlassenen eine Heimath, den Unbemittelten seine Hülfe, den Wittwen und Waisen eine Stütze, den unversorgten Töchtern ein Unterkommen, das sie vor der Sorge um das tägliche Brod und öfters auch vor der ihnen drohenden Verführung schützt. Sein Streben ist von der reinsten Humanität beseelt, sein Ziel die echte und einzig wahre Emancipation der Frau durch Arbeit, Bildung und Sittlichkeit.

Max Ring.





Indianerhäuptling und Poet.


Auf den Promenaden des fashionablen Londons sieht man seit Jahresfrist mitunter einen Reiter in der kleidsamen Tracht der mexicanischen Vaqueros, dessen Fertigkeit im Reiten die Männer bewundern und dessen edles, von einer blonden Lockenfülle eingerahmtes Gesicht alle Frauen entzückt. Die Frage nach dem Namen und der Stellung dieses auffälligen Cavaliers, den die Damen der höchsten Aristokratie vertraulich grüßen und welcher mit den Herren der ersten Kreise des Westend auf gutem Fuße zu stehen scheint, wird je nach dem Bildungsgrade des Gefragten verschieden beantwortet werden. Daß er ein Amerikaner ist und Joaquin Miller heißt, weiß man fast allgemein. „Den Indianerhäuptling“, „the Modoc-Chief“, „the Californian“ nennen ihn die Leute vom Strande, welche es sich untereinander als eine Art Sage erzählen, daß dieser Löwe der feinen Gesellschaft ehemals Häuptling des in neuerer Zeit so berühmt gewordenen Indianerstammes der Modocs war; als den jungen californischen Dichter, den amerikanischen Byron, bezeichnen ihn diejenigen, welche etwas näher mit dem Wirken und der literarischen Bedeutung dieses Mannes bekannt sind. Jede dieser Bezeichnungen ist richtig, ja man könnte noch weit mehr sagen: Der gefeierte amerikanische Dichter, welcher kaum dreiunddreißig Jahre zählt, war mehr als Indianerhäuptling, er ist der Reihe nach Bauer, Vaquero, Goldgräber, Feldherr der Indianer gegen die Weißen, Führer der Freiwilligen und Milizen gegen feindliche Stämme, der vergötterte Held der rothen Krieger und der Schrecken der weißen Goldjäger und Grenzer, er ist Flibustier, Journalist, Expreßbote, Rechtsanwalt und Kreisrichter gewesen.

Wir in Classen und Kasten abgetheilten Kinder der Civilisation, die wir oft länger als ein halbes Menschenalter in den Schulen hocken, alles Mögliche und Unmögliche lernen müssen, um uns auf einen einzigen Beruf vorzubereiten, welchen trotzdem die meisten von uns nur jämmerlich ausfüllen, wir können es kaum fassen und begreifen, wie eine solche Laufbahn möglich war, wie ein Mensch, der ohne Schule und ohne Erziehung aufwuchs, der sich länger als zehn Jahre unter den Indianern und Grenzstrolchen herumtrieb, die heterogensten Dinge treiben, bürgerliche Aemter, welche Fachbildung voraussetzen, bekleiden und sich gleichzeitig zum namhaften Dichter einer auf der Höhe der Cultur stehenden Sprache emporschwingen konnte, einer Sprache, die Shakespeare, Milton und Byron zu ihren geistesmächtigsten Pflegern und einen Tennyson, Longfellow und Bryant zu ihren lebenden Meistern zählt. Nur wer in Amerika gelebt und die Facultäten dieser größten aller Hochschulen genau kennen gelernt hat, der weiß es, daß in diesem Lande solche Carrièren möglich sind.

Die literarische Sensation, welche der californische Novellist Bret Harte durch sein kleines Buch „The luck of the roaring camp and other Stories“ im Winter 1871 bis 1872 in England und Amerika erregte, hatte sich kaum verflüchtigt, als durch die amerikanische Presse die Nachricht lief, in London sei abermals ein Californier als Dichter aufgetreten und sein Buch „Songs of the Sierras“ habe allgemeine Anerkennung gefunden. Der nie dagewesene Erfolg dieses Buches, von welchem in der kurzen Zeit eines Jahres allein in Amerika elftausend Exemplare abgesetzt wurden, und die fast ungetheilte Anerkennung aller großen und kleinen Kritiker zeigten, daß der Ruhm, welcher dem bisher unbekannten Joaquin Miller über Nacht geworden, nicht unverdient war. Die Gedichte Miller’s sind bei allen stellenweise vorkommenden Schwächen neu und einzig in ihrer Art. Darin ist nichts von dem süßen Reimgeklingel einer längst bis auf die Wurzeln abgeweideten Erotik, auf welcher poetische Grauchen in unseren Tagen noch immer ein spärliches Futter suchen und mitunter von kurzsichtigen Recensenten für Pegasusse gehalten werden; da ist keine Spur von jener verklungenen Romantik, die als Gespenst durch die ersten Versuche junger Dichter schreitet, kein Anlehnen an irgend einen Meister oder eine Schule; man merkt es diesen Gesängen an, sie würden gerade so ausgefallen sein, wenn Joaquin Miller der erste Dichter der englischen Sprache gewesen wäre. Das ist neuer Wein in neuen Schläuchen, süß, berauschend und schwer, wie der goldene Californier, welcher der Sage nach selbst den Teufel bezwang. Nie betritt diese wildfremde Muse die ausgefahrenen Gleise des Epigonenthums, welches gegenwärtig in allen Cultursprachen florirt; das sind neue Bahnen und neue Formen, fast könnte man versucht sein zu sagen – neue Gedanken.

„Gedanken wild, stark, wie ein Panther,
Doch zahm in den Fesseln des Worts.“

Miller’s Muse ist eine Rothhaut, wie er denn auch ausschließlich Indianerinnen besingt. „My peerless dark-eyed Indian girl“ ist seine stehende Phrase. Der Goldgräber, der Flibustier, der Vaquero, das vor dem Prairiefeuer flüchtende Brautpaar, der Grenzer und Trapper sind seine Figuren, der Urwald, die Prairie oder die Südsee bilden den Hintergrund; die menschlichen Leidenschaften, groß, wild und gewaltig und würdig der großartigen Scenerie, sind seine Effecte, und mit diesen einfachen Mitteln führt er uns Zeitbilder, Seelengemälde oder Naturschilderungen vor, die einen dauernden Platz unter den Meisterwerken der englischen Sprache einnehmen.

Selbstverständlich begegnen wir in diesen Versen zuweilen Härten und Unebenheiten, die der Aesthetiker dick anstreichen würde. Miller gebraucht nicht selten in seinen schönsten Strophen ein Slang-Wort; man merkt, daß kein geläuterter Geschmack die Feile geführt, aber man ist um der vielen Schönheiten willen gern geneigt, das zu übersehen. Den Leidenschaften der Liebe und des Hasses weiß er mit Shakespearescher Intensität Ausdruck zu verleihen; seine Schilderungen stellen Einige denjenigen Byron’s gleich.

Daß diese Gesänge in unserer trockenen, poesiearmen Zeit wie Brander zündeten, ist leicht begreiflich. Man fragte sich allgemein: „Wer ist dieser Mensch?“ Ja, wer war er? Diese Frage führte zu einer scandalösen Zeitungs-Controverse. Die einzelnen Lieder deuteten nur leicht an, was der Dichter bisher getrieben hatte. Seine Freunde glaubten, die sonderbare Vergangenheit vertuschen zu müssen; seine Feinde aber rissen jede Hülle fort und stellten ihn weit schlimmer dar, als er je gewesen; sie sagten, er sei ein gefährlicher Grenzstrolch, welcher der summarischen Execution verschiedene Male mit knapper Noth entgangen, ein Libertin, gegen den Byron ein Engel gewesen sei. Um das Maß voll zu machen, trat auch noch seine geschiedene Frau gegen ihn auf und hielt Vorlesungen über sein Leben und seinen Charakter; selbstverständlich ließ sie kein gutes Haar an ihm. Miller machte dem ganzen Klatsche in der originellsten Weise ein Ende, indem er sein Leben unter den Modocs beschrieb.

„Wie amüsirt es mich,“ sagt er in diesem interessanten Buche, „zu sehen, wie sehr meine Freunde sich bemühen, in Abrede zu stellen, daß ich der Mann war, welcher unter den Indianern lebte und dieselben gegen die Weißen in die Schlacht führte! Ach, meine Freunde, Ihr kennt mich schlecht! Ohne Zweifel habe ich Viel gethan, was ich bedauern muß, aber Nichts, was ich zu verheimlichen brauche. Ein für allemal sei es hier gesagt, daß gerade die Dinge, welche ich bedauere, nichts mit meinem Leben unter den Indianern und mit meinen Versuchen, ihre Lage zu

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_402.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)