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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

daß ich es nun lange Jahre nicht, daß ich es vielleicht nie wieder sehen würde, da wollten all die Freiheitsgelüste nicht Stand halten, und ich rang schwer mit der Versuchung, Dich zu wecken und mit mir zu nehmen. Später, als ich die dornenvolle Laufbahn des abenteuernden, heimathlosen Knaben mit all ihren Gefahren und Entbehrungen kosten mußte, da habe ich oft Gott gedankt, daß ich der Versuchung widerstand, wußte ich Dich doch sicher und geborgen im Hause der Verwandten, und jetzt“ – die kräftige Stimme Hugo’s bebte wie im unterdrückten Grolle oder Schmerz – „jetzt wollte ich, ich hätte Dich damals mit hinausgerissen in Mangel und Entbehrung, in Sturm und Gefahr, aber auch in die Freiheit hinaus; es wäre besser gewesen.“

„Es wäre besser gewesen,“ wiederholte Reinhold tonlos; dann auf einmal erhob er sich ungestüm. „Laß uns abbrechen! Wozu die Klagen, die das einmal Geschehene doch nicht ändern? Komm’! Man erwartet uns oben im Hause.“

„Ich wollte, ich hätte Dich auf meiner ‚Ellida‘ und wir könnten der ganzen Sippschaft den Rücken kehren auf Nimmerwiedersehen!“ sagte der junge Seemann mit einem Seufzer, während er sich anschickte, der Aufforderung nachzukommen. „So schlimm habe ich mir die Sache doch nicht gedacht.“

Die Brüder hatten kaum das Haus betreten, als die Unentbehrlichkeit Hugo’s sich auch schon wieder zu zeigen begann. Von nicht weniger als drei Seiten ward er zugleich in Anspruch genommen. Jeder verlangte seinen Rath, seine Hülfe. Der junge Capitain schien die beneidenswerthe Fähigkeit zu besitzen, sich sofort von einer Stimmung in die andere werfen zu können, denn unmittelbar nach dem tiefernsten Gespräch mit dem Bruder sprühte er schon wieder von Heiterkeit und Uebermuth, half Jedem, sagte Jedem Artigkeiten und verspottete dabei Alle in der schonungslosesten Weise. Diesmal war es der Buchhalter, der ihn schließlich „abfing“, wie Jonas sich ausdrückte, um seine Vereinsangelegenheit vorzutragen, und während die beiden Herren darüber debattirten, trat Reinhold in das Eßzimmer, wo er seine Frau bereits mit den Vorbereitungen für die erwähnte Gesellschaft beschäftigt fand.

Ella war heute in Sonntagstracht, aber das änderte wenig in ihrer Erscheinung. Der Anzug von feinerem Stoffe war deshalb nicht kleidsamer; die Haube, die ihrem Schwager ein solches Entsetzen einflößte, umgab und entstellte auch heute das Gesicht. Die junge Frau widmete sich ihren Hausfrauenpflichten so emsig und ausschließlich, daß sie kaum den Eintritt ihres Gatten zu bemerken schien, der sich mit ziemlich finsterer Miene ihr näherte.

„Ich möchte Dich doch bitten, Ella,“ begann er, „in Zukunft etwas mehr Rücksicht auf meine Wünsche zu nehmen und meinem Bruder in der Weise zu begegnen, die er von seiner Schwägerin erwarten kann und darf. Ich sollte meinen, das Benehmen Deiner Eltern und des ganzen Hauses könnte Dir als ein Beispiel dienen; aber Du scheinst ein eigenes Vergnügen darin zu finden, ihm jedes Verwandtenrecht zu versagen und ihm eine förmliche Antipathie zu zeigen.“

Die junge Frau sah bei dieser in nichts weniger als liebevollem Tone gegebenen Zurechtweisung genau so furchtsam und hülflos aus, wie damals, als die Mutter von ihr verlangte, sie solle gegen die musikalische „Manie“ ihres Mannes einschreiten. „Sei nicht böse, lieber Reinhold!“ entgegnete sie zaghaft, „aber ich – ich kann wirklich nicht anders.“

„Du kannst nicht?“ fragte Reinhold scharf. „Freilich, das ist ja Deine stete Antwort, wenn ich etwas von Dir verlange, und ich dächte, es käme doch selten genug vor, daß ich einmal eine Bitte an Dich richte. Diesmal aber bestehe ich ganz entschieden darauf, daß Du Dein Benehmen gegen Hugo änderst. Dieses scheue Ausweichen und consequente Schweigen auf jede seiner Anreden ist ja geradezu lächerlich. Ich bitte Dich jetzt ernstlich, etwas mehr dafür zu sorgen, daß ich meinem Bruder nicht gar zu bemitleidenswerth erscheine.“

Ella schien im Begriff zu sein, zu antworten; aber die letzte schonungslose Bemerkung schloß ihr die Lippen. Sie senkte den Kopf und machte auch nicht den leisesten Versuch mehr, sich zu vertheidigen. Es war eine Bewegung so sanfter, geduldiger Fügsamkeit, daß sie wohl Jeden entwaffnet hätte; Reinhold aber achtete gar nicht darauf, denn in diesem Augenblicke hörte man drinnen im Nebenzimmer den alten Buchhalter sich verabschieden.

„Wir dürfen also auf die Ehre Ihrer Mitgliedschaft rechnen, Herr Capitain? Und hinsichtlich unserer Präsidentenwahl habe ich Ihr Wort, daß Sie zu der Opposition stehen?“

„Ganz der Ihrige, verehrter Herr!“ tönte Hugo’s Stimme. „Und selbstverständlich nur bei der Opposition. Ich schlage mich grundsätzlich immer zur Opposition, wo eine existirt; es ist gewöhnlich die einzige Partei, bei der es amüsant zuzugehen pflegt. Bitte, die Ehre ist ganz auf meiner Seite.“

Der Buchhalter ging, und der Herr Capitain erschien jetzt im Zimmer. Er schien Lust bekommen zu haben, das vorhin gegebene Versprechen einzulösen und die junge Frau seines Bruders gleichfalls von seiner Vortrefflichkeit zu überzeugen, denn er näherte sich ihr mit der ganzen Keckheit und dem ganzen Uebermuthe seines Wesens, dem eine gewisse ritterliche Galanterie beigemischt war.

„Also dem Zufalle muß ich es danken, daß ich endlich einmal meine liebenswürdige Schwägerin zu Gesicht bekomme und sie mir nothgedrungen auf einige Minuten Stand halten muß? Sie selbst freilich hätte mir dieses Glück nie zu Theil werden lassen. Ich habe mich bereits heute Morgen bitter bei Reinhold über diese Zurücksetzung beklagt, die verdient zu haben ich mir in keiner Weise bewußt bin.“

Er wollte ihre Hand ergreifen, jedenfalls um sie zu küssen; aber Ella zog mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Entschiedenheit die Hand zurück.

„Herr Capitain!“

„Herr Capitain!“ wiederholte Hugo entrüstet. „Nein, Ella, das geht zu weit. Ich hätte als Schwager wohl mehr als je ein Recht, das vertrauliche ,Du‘ zu beanspruchen, das Sie dem Vetter und Jugendgespielen nie verweigert haben; aber da Sie vom ersten Tage meines Hierseins an die fremde Anrede so entschieden betonten, so folgte ich dem mir gegebenen Winke. Dieses ,Herr Capitain‘ aber dulde ich nicht; das ist eine Beleidigung, gegen die ich Reinhold zu Hülfe rufe. Er soll mir sagen, ob ich es wirklich ertragen muß, mich von diesen Lippen ,Herr Capitain‘ genannt zu hören.“

„Nicht doch!“ sagte Reinhold, indem er sich zum Gehen wandte. „Ella wird diese Anrede wie überhaupt den fremden Ton gegen Dich fallen lassen. Ich habe sie soeben ausdrücklich darum gebeten.“

Er ging wirklich, und sein Blick befahl der jungen Frau ebenso bestimmt, zu bleiben, als sein Ton Gehorsam forderte. Dem Capitain entging Beides nicht.

„Um Gotteswillen, komm’ mir nicht mit Deiner Ehemannsautorität dazwischen! Willst Du die Freundlichkeit gegen mich etwa anbefehlen?“ rief er dem Bruder nach und wandte sich dann rasch wieder zu Ella, während er galant fortfuhr: „Das wäre der sicherste Weg, mich nun und nimmermehr Gnade finden zu lassen vor den Augen meiner schönen Schwägerin. Aber nicht wahr, dessen bedarf es auch nicht zwischen uns? Sie erlauben mir endlich, Ihnen den schuldigen Tribut der Ehrfurcht zu Füßen zu legen, Ihnen die freudige Ueberraschung zu schildern, mit der ich die Nachricht empfing –“

Hier hielt Hugo plötzlich inne und schien aus dem Concepte zu kommen. Ella hatte das Auge emporgeschlagen und ihn angesehen. Es war ein Blick stillen schmerzlichen Vorwurfes, und derselbe Vorwurf lag auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte:

„Lassen Sie doch wenigstens mich in Frieden, Herr Capitain! Ich dächte, Sie hätten heute bereits hinreichenden Zeitvertreib gehabt.“

„Ich?“ fragte Hugo betroffen. „Wie meinen Sie das, Ella? Sie glauben doch nicht etwa –“

Die junge Frau ließ ihn nicht ausreden. „Was haben wir Ihnen denn gethan?“ fuhr sie fort, und so furchtsam die Stimme auch im Anfange noch bebte, sie gewann sichtbar an Festigkeit bei jedem Worte. „Was haben wir Ihnen denn gethan, daß Sie uns immer nur verspotten von dem Tage Ihrer Rückkehr an, wo Sie meinen Eltern eine Reuescene vorspielten, über die Sie wahrscheinlich nachher sehr gelacht haben, bis zur heutigen Stunde, wo Sie das ganze Haus zur Zielscheibe Ihres Uebermuthes machen? Reinhold duldet es freilich, daß wir Tag für Tag so herabgesetzt werden; er muß es wohl in der Ordnung finden. Aber ich, Herr Capitain,“ – hier hatte Ella’s Ton die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_397.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)