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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


No. 25.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Es war Sonntag Morgen. Das Comptoir war geschlossen, und Reinhold hatte einmal einen freien Vormittag vor sich, was ihm allerdings nur selten zu Theil wurde. Er befand sich im Gartenhause, dessen ausschließliche Benutzung er endlich errungen hatte, allerdings erst nach manchen Kämpfen und nur durch den wiederholten Hinweis auf seine musikalischen Uebungen, die man im Hause selbst allzu störend fand. Der junge Mann war nur hier einigermaßen sicher vor der fortwährenden Controlle seiner Schwiegereltern, die sich bis in die Wohnung des jungen Paares hinein erstreckte, und er benutzte jede freie Stunde, sich in sein Asyl zu flüchten.

Der sogenannte „Garten“ war von jener Beschaffenheit, wie sie in einem enggebauten, alten und menschenvollen Stadtviertel die allein mögliche ist. Ueberall hohe Mauern und Giebel, die von allen Seiten das Stückchen Erde einengten, dem Luft und Sonnenschein nur spärlich zugemessen war, und auf dem einige Bäume und Gesträuche ein kümmerliches Dasein fristeten. Als Grenzlinie hatte das Gärtchen einen jener kleinen Canäle, welche die Stadt nach allen Richtungen hin durchzogen, und dessen stille dunkle Fluth einen recht trübseligen Hintergrund bildete; jenseit desselben aber sah man wieder Mauern und Giebel; das Gefängnißartige, das dem ganzen Almbach’schen Hause anhaftete, schien sich auch auf den einzigen freien Raum desselben zu erstrecken.

Das Gartenhaus selbst war nicht viel freundlicher, das einzige geräumige Gemach sogar mehr als einfach eingerichtet. Man sah es den wenigen alterthümlichen Möbeln an, daß sie als überflüssig irgendwo bei Seite gestellt und jetzt hervorgesucht waren, um das Zimmer nothdürftig herzustellen. Nur am Fenster, um das sich einige kümmerliche Weinranken schlangen, stand ein großer, kostbar gearbeiteter Flügel, das Vermächtniß des verstorbenen Musikdirector Wilkens an seinen Schüler, ein Prachtstück, das sich in der nüchternen Umgebung ebenso seltsam und fremdartig ausnahm, wie die Gestalt des jungen Mannes mit der idealen Stirn und den großen flammenden Augen hinter den vergitterten Comptoirfenstern des Vorderhauses.

Reinhold saß am Tische und schrieb, aber sein Gesicht trug heute nicht jenen müden, apathischen Ausdruck, der stets darauf ruhte, sobald er die Zahlen der Handlungsbücher vor sich hatte; seine Wangen waren tief, fast fieberhaft geröthet, und die Hand, die in raschen Zügen einen Namen auf das vor ihm liegende Briefcouvert warf, zitterte leise, wie in verhaltener Erregung. Da ließen sich Schritte draußen hören und die Glasthür wurde geöffnet; mit einer schnellen unmuthigen Bewegung schob der junge Mann das Couvert unter die auf dem Tische liegenden Notenblätter und wandte sich um.

Es war Jonas, der Diener des Capitains, der die ihm angebotene Gastfreundschaft seiner Verwandten nur auf einige Tage angenommen hatte, und dann in eine eigene Wohnung übergesiedelt war. Der Matrose brachte Gruß und Eintritt in der ihm eigenen derben und etwas ungeschickten Art zuwege und legte dann einige Bücher auf den Tisch.

„Eine Empfehlung von dem Herrn Capitain, und er schickt hier das Versprochene aus seiner Reisebibliothek.“

„Kommt mein Bruder nicht selbst?“ fragte Reinhold befremdet. „Er versprach es doch.“

„Der Herr Capitain ist schon längst da,“ rapportirte Jonas, „aber sie haben ihn richtig wieder im Hause abgefangen: der Herr Onkel wünschen eine Conferenz mit ihm in Familiensachen; die Frau Tante verlangen seine Hülfe bei einer Aenderung im Besuchszimmer, und der Buchhalter will ihn für seinen Verein kapern. Alle reißen sie sich um ihn; er kann nicht loskommen.“

„Hugo scheint im Laufe einer einzigen Woche bereits das ganze Haus erobert zu haben,“ bemerkte Reinhold ironisch.

„Das machen wir überall so,“ sagte Jonas voll Selbstgefühl, und schien sehr geneigt, noch Einiges über diese Eroberungen hinzuzufügen als er durch den Eintritt seines Herrn unterbrochen wurde, der in heiterster Laune den Bruder begrüßte.

„Gute Morgen, Reinhold! Nun, Jonas, was stehst Du denn noch hier? Man bedarf Deiner im Hause. Ich habe der Tante versprochen daß Du bei der heutigen Mittagsgesellschaft Aushülfe leisten sollst. Rasch hinauf in die Küche!“

„Unter die Frauenzimmer?“ fragte Jonas, dessen Gesicht sich bei dem Befehle natürlich verlängerte.

„Unter die Frauenzimmer! Weiß der Himmel,“ wandte sich Hugo lachend an seinen Bruder, „wo dieser Mensch den Haß gegen alles Weibliche gelernt hat. Bei mir sicher nicht; ich bewundere das schöne Geschlecht ganz außerordentlich.“

„Ja, leider Gottes, gar zu außerordentliche!“ brummte Jonas, machte aber gehorsam Kehrt und marschirte zur Thür hinaus, während der Capitain dicht an Reinhold hinantrat.

„Es ist heute große Familientafel,“ hob er an, den pedantisch feierlichen Ton seines Onkels Almbach täuschend nachahmend. „Mir zu Ehren, natürlich! Ich hoffe, daß Du diesem bedeutsamen Acte die gebührende Hochachtung entgegenbringst, und Dich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_395.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)