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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Mehr als eine halbe Stunde war in dieser peinigenden Besorgniß vergangen, da endlich ließen sich Schritte vernehmen und der Capitain trat ein.

„Da bin ich. Die Sache ist abgemacht.“

„Was ist abgemacht?“ fragte Reinhold hastig.

„Nun, die Begnadigung natürlich. Ich habe als vielgeliebter Neffe soeben abwechselnd in den Armen des Onkels und der Tante gelegen. Komm mit hinauf, Reinhold! Du fehlst noch im Versöhnungstableau, aber auf eine unendliche Rührung mußt Du Dich gefaßt machen; sie weinen allesammt.“

Der Bruder sah ihn ungewiß an. „Ich weiß nicht, Hugo, soll das Scherz sein oder –“

Der junge Capitain lachte übermüthig, „Du scheinst meinem diplomatischen Talente sehr wenig zu trauen. Glaube übrigens nicht, daß mir die Sache diesmal sehr leicht geworden ist! Auf einen Sturm hatte ich mich allerdings gefaßt gemacht. Hier aber tobte entschieden ein Orcan – pah, wir Seeleute sind an Dergleichen gewöhnt – und als ich erst zu Worte kam, was freilich lange dauerte, da war der Sieg auch schon entschieden. Ich setzte die Rückkehr des verlorenen Sohnes meisterhaft in Scene; ich rief Himmel und Erde zum Zeugen meiner Besserung an; ich riskirte einen Fußfall – das schlug durch, bei der Tante wenigstens. Ich versicherte mich nun zuvörderst des wankenden weiblichen Flügels, um dann mit ihm vereint das Centrum zu stürmen, und der Sieg war glänzend. Begnadigung in aller Form – allgemeine Rührung und Umarmung – Versöhnungsgruppe – mein Himmel, so sieh doch nicht so ungläubig aus! Ich versichere Dir, daß ich im vollen Ernste spreche.“

Reinhold schüttelte den Kopf, aber er athmete doch unwillkürlich auf. „Das begreife, wer da kann! Ich hätte es für unmöglich gehalten! Hast Du“ – die Frage klang eigenthümlich unsicher – „Hast Du meine Frau gesehen?“

„Ja wohl,“ sagte Hugo gedehnt. „Das heißt, viel habe ich eigentlich nicht von ihr gesehen, und noch weniger gehört, denn sie verhielt sich ganz passiv bei der Scene und weinte nicht einmal wie die Uebrigen. Noch immer die kleine Cousine Eleonore, die stets so still und scheu in ihrem Winkelchen saß, aus dem sie selbst unsere wildesten Knabenneckereien nicht hervorscheuchten – und das ist Deine Frau geworden! Aber jetzt muß ich vor allen Dingen den Stammhalter des Hauses Almbach bewundern. Wo habt Ihr ihn?“

Reinhold sah auf und ein helles Aufleuchten verdrängte für einen Augenblick alle Düsterheit in seinem Antlitze. „Meinen Knaben? Ich will ihn Dir zeigen. Komm, wir wollen zu ihm.“

„Gott sei Dank, doch endlich einmal ein Zug von Glück in Deinem Gesichte!“ sagte der Capitain mit einem Ernste, den man seinem Uebermuthe kaum zugetraut hätte, und mit sinkender Stimme setzte er hinzu: „Ich habe ihn bis jetzt vergebens darin gesucht.“




Das Haus Almbach und Compagnie gehörte zu denen, deren Name an der Börse wie in der Handelswelt überhaupt einen guten Klang hat, ohne gleichwohl irgendwie von hervorragender Bedeutung zu sein. Die Beziehungen seines Chefs zu dem Consul Erlau waren nicht blos geschäftlicher Natur; sie datirten noch aus früheren Zeiten, wo Beide, gleich jung und mittellos, bei einem und demselben Handlungshause in die Lehre traten, der Eine, um sich zum reichen Kaufherrn aufzuschwingen, dessen Schiffe auf allen Meeren schwammen und dessen Verbindungen in alle Welttheile hinüberreichten, der Andere, um ein bescheidenes Geschäft zu gründen, dessen Umfang sich nie über gewisse Grenzen hinaus erstreckte. Almbach scheute jede gewagte Speculation, jede größere Unternehmung, und war auch keineswegs der Mann, dergleichen zu überblicken und zu leiten; er zog einen mäßigen, aber sicheren Gewinn vor, der ihm auch im vollsten Maße zu Theil ward. Seine gesellschaftliche Stellung war von der Erlau’s freilich so verschieden wie das alterthümliche, düstere Haus in der Canalstraße mit seinem hohen Giebel und vergitterten Comptoirfenstern von dem fürstlich eingerichteten Palais am Hafenbassin. Die Freundschaft zwischen den ehemaligen Jugendgefährten hatte sich allmählich mehr und mehr gelockert, aber es war wohl hauptsächlich Almbach, der die Schuld daran trug. Er konnte sich nicht darein finden, daß der Consul, nachdem er zum Millionär geworden, auch auf einem Fuße lebte, der dieser Stellung entsprach. Vielleicht verzieh er es ihm auch nicht, daß Jener den ersten Platz einnahm, wo er selbst erst in dritter oder vierter Reihe stand, und so sehr er in geschäftlicher Hinsicht die Vortheile zu benutzen wußte, die eine nähere Bekanntschaft mit der großen Erlau’schen Firma ihm eröffnete, so sehr hielt er seinen streng bürgerlichen und etwas altfränkischen Haushalt außer aller Berührung mit dem des Consuls. Die Einladungen desselben hatten aufgehört, als er sah, daß sie nicht gern angenommen wurden; jetzt beschränkte sich die beiderseitige Begegnung schon seit Jahren auf ein gelegentliches Zusammentreffen an der Börse oder am dritten Orte, und kürzlich hatte sich Almbach sogar, als eine Geschäftssache persönliche Rücksprache verlangte, durch seinen Schwiegersohn vertreten lassen. Es war ihm durchaus nicht lieb, daß dem jungen Manne bei dieser Gelegenheit die Einladung zur Oper und zu der darauffolgenden Soirée zu Theil wurde, und so wenig sich diese Artigkeit ablehnen ließ, so wenig verhehlte der Kaufmann seiner Familie gegenüber seinen Unmuth über die Einführung Reinhold’s in das „Nabobleben“, eine Bezeichnung, mit der er gewöhnlich den Haushalt seines alten Freundes beehrte.

Trotz alledem war Almbach ein wohlhabender, ja, wie von vielen Seiten behauptet wurde, sogar ein sehr vermögender Mann geworden und in dieser Eigenschaft der Mittelpunkt und die Stütze einer zahlreichen, nicht gerade sehr mit Glücksgütern gesegneten Verwandtschaft. So fiel ihm denn auch die Sorge für die Erziehung seiner beiden verwaisten Neffen anheim, die ihr Vater, ein Schiffscapitain, gänzlich mittellos zurückgelassen hatte.

Almbach besaß nur ein einziges Kind, dessen Existenz er freilich nie eine besondere Wichtigkeit beigelegt hatte, da es ein Mädchen war. Der Consul und dessen Gattin waren die Pathen der Kleinen gewesen, und es konnte immerhin als ein Act der Selbstüberwindung gelten, daß Almbach seiner Tochter den Namen der Frau Erlau beilegte, denn er haßte das vornehm und romantisch klingende „Eleonore“ ganz außerordentlich und beeilte sich sehr bald, es in das weit einfachere „Ella“ umzugestalten. Diese Bezeichnung war wohl auch die passendere, denn Ella Almbach galt überall für ein nicht bloß einfaches, sondern sogar für ein äußerst beschränktes Wesen, dessen Horizont sich nie über die kleinen Vorkommnisse der Häuslichkeit und der Wirthschaft hinaus erstreckte. Das Kind war in früheren Zeiten sehr kränklich gewesen, und das mochte auch auf die Entwickelung seiner geistigen Fähigkeiten lähmend gewirkt haben. Sie waren in der That sehr untergeordneter Natur, und die äußerst einseitige, streng wirthschaftliche Erziehung im Elternhause, die jeden andern Ideen- und Gedankenkreis ausschloß, schien auch nicht geeignet, ihnen eine höhere Richtung zu geben. So war das Mädchen denn still und scheu herangewachsen, stets übersehen, überall bei Seite geschoben und ohne die geringste Geltung selbst bei den nächsten Familiengliedern. Man hatte sich gewöhnt, sie als ganz unselbstständig und halb unzurechnungsfähig zu betrachten, und auch ihre spätere Heirath änderte darin durchaus nichts.

Keines der jungen Leute erhob einen Einwand gegen den längst gehegten und ihnen längst bekannten Plan einer Verbindung. Ein siebenzehnjähriges Mädchen und ein zweiundzwanzigjähriger Mann haben wohl überhaupt noch nicht viel Selbstbestimmung, am wenigsten, wenn sie in so abhängigen Verhältnissen aufgewachsen sind. Hier kam noch die Gewohnheit eines steten Zusammenlebens hinzu, das doch immerhin eine Art von Neigung erzeugt hatte, obgleich diese bei Reinhold eigentlich nur mitleidige Duldung und bei Ella geheime Furcht vor dem ihr geistig so sehr überlegenen Vetter war. Sie reichten sich also gehorsam die Hand zur Verlobung, der in Jahresfrist die Trauung folgte. Ueber Beiden waltete nach wie vor das Scepter Almbach’s, der seinem nunmehrigen Schwiegersohne, der dem Namen nach jetzt sogar Compagnon war, so wenig irgend eine Selbstständigkeit im Geschäfte gestattete, wie seine Gattin der jungen Frau im Haushalte.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_382.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)