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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Wange fühlte, suchte er nach den frischen Lippen und trank sich dort fest wie ein stiller Zecher. Und Ellen fürchtete sich gar nicht, was dem Knaben schrecklich vorkam. Ja, sie begann sogar mit dem Geiste zu reden.

„Wie kalt Du bist,“ hörte der kleine Kranke sie sagen, „und bei diesem Wetter kommst Du aus dem Dorfe zu mir heraus, und es ist doch schon mehr als elf Uhr.“

„Die Geisterstunde,“ murmelte der kleine Felix, „er wird vom Dorfkirchhofe kommen. O Gott!“

„Alles um Dich, geliebte Ellen,“ sagte der Geist mit dem langen Barte. „Aber darf ich nicht ein wenig hinein in die warme Stube? Mich friert; nur meine Lippen sind warm von Deinen Küssen.“

„Bst!“ warnte Ellen, „der Kleine liegt dort auf dem Sopha; ich habe ihn nicht zu Bett bringen können, aber gottlob, er schläft wenigstens und ich kann doch wieder einmal eine Minute bei Dir sein, lieber Felix, eine Minute nur, denn Papa wird bald kommen.“

„O, er sitzt noch fest in der ‚Blauen Ente‘; ich bin eben erst noch dort gewesen,“ sagte heiter der Geist, der Felix hieß.

„Er ist also unsichtbar,“ calculirte der Knabe, „sonst müßte man ihn in der ‚Blauen Ente‘ gesehen haben. Und Felix heißt er – das ist schrecklich.“ Er schloß die Augen und zog die Decke über die Ohren, um nichts mehr zu hören.

„Es kann nicht gut enden, Felix,“ sagte Ellen, „wenn der Vater von unserer Liebe erfährt. Du bist nur ein armer Unterlehrer, und er ist so stolz und hat mich, wie Du weißt, einem Andern versprochen; sein Wort hält er, und wenn er mehr als ein Herz damit bräche.“

„Wir sind jung, Ellen, und können warten,“ erwiderte der Geist leichthin. „Wenn er sieht, daß Du lieber eine alte Jungfer wirst, als daß Du Dein Herz um Geld verkaufst, wird er nachgeben. Und noch etwas – der Schuldienst in Ebensee ist vacant, weil der alte Lehrer sich pensioniren läßt; ich werde um ihn anhalten.“

„Das wäre etwas, aber nicht viel,“ war Ellen’ s Antwort. „Und dann ist es auch so ungewiß. Der alte Baron Bisam hat das Patronatsrecht, und der ist mehr als kindisch, denn er mag fast hundert Jahre alt sein. Er lebt in nichts als in seiner Münzsammlung, und ich glaube, wer ihm eine alte Münze bringt, die er noch nicht hat, der erhält den Dienst –“

„Und wenn er Bileam’s Esel wäre,“ meinte der Geist, der um einen Schuldienst anhalten wollte, „immerhin! Ich werde es thun; ich verlasse mich auf meinen Mutterwitz, und mit dem alten Herrn wird sich auch reden lassen.“

„Etwas Gutes mag es freilich haben,“ meinte Ellen, „wenn Du den Dienst erhältst; man kann Dich dann doch nicht nach Belieben versetzen, und Du kannst bei mir bleiben.“ Sie preßte den Geist fest an sich und drückte ihr Gesichtchen in den langen schwarzen Bart. Es war ja so kühl draußen.

„Ja – kommt Zeit, kommt Rath,“ erwiderte mit der Logik der Liebe der Geist. „Noch etwas jetzt, Ellen. Sehen wir uns bald wieder in der alten Waldkirche drüben?“

„Bald, aber wann, weiß ich noch nicht,“ gab das Mädchen zurück, „Du wirst es an der Zahl der Rosen erkennen, die ich am Sonntage an der Brust trage. Mein Vater schilt immer, daß ich unsere Topfrosen so schrecklich plündere – o, wenn er die Wahrheit ahnte! Wenn er wüßte, daß der Mann, der mir Clavierstunden gab, mehr mit wegnahm als das Honorar! Es ist eine Sünde von mir, und ich bin so schwach.“

„Drum bist Du ein Weib geworden,“ tröstete der Geist, der früher Clavierstunden gegeben hatte. „Noch eins“, fügte er bei, „ehe ich gehe. Heute habe ich die erste Schlüsselblume gefunden, da ist sie. Und einen Vers habe ich auch dazu gemacht, für Dich und mich.“ Er sagte heiter, indem er die Blume an Ellen’s Brust befestigte:

„Diesen Schlüssel will ich stecken
An Dein Herz, das freudenwarme,
Und es dann voll Kraft bedecken
Mit der Klammer meiner Arme.“

Und er that, wie er gesagt, umklammerte die zarte Gestalt und löste die Klammern nicht eher, als bis er in der Ferne einen Hund anschlagen hörte. Jetzt gab es ein schnelles Trennen. Der Geist verschwand, wie weggehaucht, unter den Haselstauden, und Ellen schloß das Fenster. Gleich darauf trat der Förster ein und hing die Flinte an das Hirschgeweih, das über dem Sopha angeheftet war.

„Ich habe lang warten lassen,“ begann er, „es ist aber auch ein Hundewetter und der Wein war gut. Dann ist auch noch der alte Baron Bisam heruntergekommen und hat eine ewige Geschichte von seinen Münzen erzählt. Und man muß ihn doch anhören. Wie geht es denn dem kleinen Schlingel da?“ fuhr er fort, während Ellen sich in den Schatten vergrub, der in der Tischecke herrschte. Waldraff beugte sich über den Knaben, der schweißgebadet unter der Decke lag und die kleinen Hände zitternd um die großen des Vaters schlang.

„O Papa,“ konnte er nur sagen; dann fing er zu weinen an.

„Es ist schlimmer mit dem armen Felix,“ meinte der Förster und sah besorgt in die großen Pupillen des Kleinen. „Ich will Dich hinauftragen – aber weine nur nicht! Thut Dir etwas weh, liebes Herz?“

Der Knabe richtete sich auf und sagte dann hastig:

„O Papa, Ellen muß sterben.“

„Sterben? – warum sterben?“

„Sie hat einen Geist geküßt.“

Ellen stieß einen leisen Schrei aus; sie wollte vorspringen und ihre Hand auf den Mund des Schwätzers legen. Aber der Förster sagte beschwichtigend zu ihr:

„Er phantasirt; wir müssen morgen zum Arzt schicken.“

„Was heißt phantasiren, Papa?“ fragte hartnäckig der Knabe.

„Das heißt im Traume reden von Dingen, die gar nicht sind, oder verkehrt reden,“ erläuterte der Förster, dem eben keine bessere Erklärung bei der Hand war und der eine genauere auch nicht für nöthig hielt.

„Aber ich habe ja nicht geträumt und träume auch jetzt nicht,“ sagte eigensinnig der Knirps. „Ich bin wach gewesen. Dort am Fenster sind sie beieinander gewesen, Ellen und der Geist, und haben sich geküßt, o, so oft, es war schrecklich. Der Geist hat einen langen Bart und heißt Felix, wie ich. Er hat gesagt, er sei auch in der ‚Blauen Ente‘ gewesen und habe Dich gesehn. O, ich hab’ es wohl verstanden, dann aber habe ich die Decke über die Ohren gezogen. Es ist so schrecklich, und Ellen muß gewiß sterben.“

Die Genannte verhüllte das Gesicht, und Todesangst durchzitterte ihr Herz.

Der Förster hatte sich stumm erhoben, trat auf sie zu und zog sie in das Licht der Lampe. Er sah in ein todtenbleiches Gesicht mit scheuen Augen, und die Hand, die er hielt, zitterte wie draußen die Zweige der Haselstauden.

„Rede!“ donnerte er sie an und die Enden seines weißen Schnurrbarts zitterten.

Aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht reden. „Hat Dir der Geist die Blume da gegeben?“ fragte mit zornigem Hohne der Förster, „ich habe sie vorher im Knopfloche eines Menschen gesehen. Rede!“ donnerte er noch lauter.

Und der Donner fand endlich ein schwaches Echo.

„O Vater, zürnt nicht zu sehr! Ich will ja Alles gestehen,“ sagte Ellen mit bebenden Lippen. „Es ist der Felix gewesen. Es war in allen Ehren – und – und wir lieben uns und können uns nicht lassen.“

„Ich kenne den Felix,“ knurrte der Alte, „Du brauchst nicht weiter zu reden.“ Er schleuderte die Hand seiner Tochter hinweg und durchmaß die Stube mit mächtigen Schritten. Er kämpfte schwer mit sich, sonst wäre wohl die sehnige Faust auf das blonde Haar seiner Tochter niedergefallen, die jetzt mit gefalteten Händen im Lichte der Lampe stand – eine büßende Magdalena.

„Du weißt,“ grollte jetzt Waldraff dumpf, „daß ich Dich mit meinem Mannesworte dem jungen Leon Eiler versprochen habe, seinem Vater eigentlich, aber das ist dasselbe. Geh’ zu Bett!“ fuhr er dann auf einmal auf. „Hinter dem Rücken des Vaters sich an einen jungen Menschen wegwerfen, ohne Amt, ohne Vermögen, heimlich, einem gegebenen Worte entgegen. Und das ist meine Tochter! Geh’ zum – geh’ zu Bett!“ verbesserte er sich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_348.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)