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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 22.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Haselnuß.


Eine freundliche Geschichte aus dem Walde.


Es ging dem Frühling entgegen. Draußen im Forste keimte es schon lustig auf, und ein duftiger Harzgeruch strich mit dem Winde durch die Tannenreihen, um die sich das Unterholz gehorsam gruppirte, wie geneigt vor der Majestät der Kraft und Größe. So war es aber nur am Tage. Bei Nacht spukte noch der Winter mit Schneewehen oder kaltem Regengeriesel und rächte sich für die lauen Tageslüfte und die Sonnenstrahlen, die hurtigen Spinnen gleich in den Tannenalleen umhergehuscht waren, ein Netz von Licht auf dem Moosboden webend. Stürmisch und fröstelnd war es auch in der Nacht, in der diese Geschichte beginnt.

Um das Forsthaus, das eine Viertelstunde von dem Dorfe Ebensee sich so reinlich und weiß hineingebettet hatte in den grünen Forst, wie eine Glasperle in das Moos, pfiff der Wind, und die Schatten der Hasenußstauden, die das weiße Gebäude umkränzten, nickten gespensterhaft hinein in die braungetäfelte Stube, in der die Lampe so friedlich brannte und der Ofen so freundliche Wärme spendete.

Der Förster Waldraff war drüben in Ebensee in der „Blauen Ente“ und trank seinen Abendschoppen. In der braunen Stube waren nur seine beiden Kinder Ellen und Felix. Der kleine, etwa achtjährige Felix, lag auf dem Sopha und zog das Deckbett, das ihm Ellen gebracht, wie frierend über sich her. Er fieberte, und sein hübsches, kleines Gesicht brannte, während die Glieder froren. Der kleine, eigensinnige Knirps wollte nicht zu Bette, bis Papa käme, obwohl ihm Schwester Ellen aus mehr als zwanzig Gründen, die sie an den schlanken Fingern abzählte, die Nothwendigkeit des Schlafes demonstrirte.

Ellen war etwa zwanzig Jahre alt, hoch und schlank, biegsam wie eine Weide und sanft wie eine Taube; das hörte man schon an der Stimme, die so süß und beschwichtigend reden konnte. Ihr Haar war blond und ihr Auge blauschwarz, wie die Einbeere. Es lag viel Seele darin, und heute war es wie feucht verklärt, als habe sie einen Kummer und möchte lieber weinen als lachen. Sie setzte sich jetzt an ein kleines Piano, das vor dem Spiegel stand, von dem zwei riesige Hirschgeweihe herabdrohten, und sang mit ihrer zarten Altstimme zu dem sanften Tone des Instrumentes ein altes Schlummerliedchen und wiederholte mit eindringlich mahnender Stimme:

„Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du,
Schließe die blauen Guckäugelein zu!“

Aber die blauen Guckäugelein wollten sich eben nicht schließen, obwohl Ellen jetzt mit ihrer feinen weißem Hand darüber hinstrich und eine ihrer schweren Flechten, die sich gelöst, wie ein Windhauch die heißen Wangen des Kindes kühlte.

Auf einmal sagte das Mädchen, ganz in sich verloren, indem ihre schönen Augen das Fenster suchten:

„Wenn nur Felix nicht kommt. Es ist gar so stürmisch.“

„Ich bin ja schon da, lieb Schwesterchen,“ sagte der Kleine erstaunt. „Träumst Du? Sieh, wie die Haselstauden hereinnicken! Das ist schaurig, und – hu, ein Geist!“ schrie er auf einmal auf und preßte zitternd die Hand der Schwester, während seine glühenden Augen entsetzt an dem Fenster hingen, um das die Haselstauden wogten.

„Ein Geist?“ fragte Ellen zitternd, und suchte verwirrt den Boden mit den schönen Augen. „Du phantasirst, Felix. Schlafe doch, bis Papa kommt!“

„Ich sag’ Dir, ein Geist,“ behauptete der Kleine fest, „ich habe ihn deutlich gesehen; er hat sein Gesicht ganz an das Fenster gedrückt, und aus dem Gesichte sahen zwei große glühende Augen schrecklich nach Dir her.“

„Nach mir?“ forschte Ellen.

„Nach Dir – gieb Acht, er kommt noch einmal. Du hast gewiß noch nicht zu Nacht gebetet. Wenn er Dir nur nichts thut! O, er ist so schrecklich und hat einen so langen Bart.“ Und der Kleine spannte seine Arme aus, so weit er konnte.

Ellen mußte lächeln.

„Geister haben wohl keinen Bart,“ meinte sie. „Du hast jedenfalls geträumt. Schlafe jetzt – dann paßt das Träumen.“

Und der Knabe schloß wirklich die Augen und athmete bald tief und schwer. Er schlief.

Ellen schlich nun leise an’s Fenster. Sie schien keine Gespensterfurcht zu kennen, denn sie öffnete es, trotz des kalten Luftzuges, der straußfröhlich seinen Kampf mit dem Lampenlichte begann und daran zerrte, daß es ängstlich zitterte. Es war ja so schwach.

Das Mädchen hatte freilich nicht bemerkt, daß der kalte Luftzug auch den Knaben geweckt hatte, der nun mit weit offenen Augen nach dem Fenster starrte und während der folgenden Scene still und wie gebannt von Entsetzen verharrte. Und es war eigentlich gar nicht entsetzlich, was sich dort am Fenster begab. Aus den Haselstauden trat eine dunkle Gestalt und näherte sich schnell dem Fenster. Der Knabe sah nur einen Augenblick den langen Bart – es war also der Geist.

Der Geist aber faßte nach der Hand Ellen’s und fing an, sie heftig zu küssen. Dann, als er die weichen Haare an seiner

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