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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Aber nun, wo sie ihn wiedergesehen hatte, sehnte sie sich krank; sie sah nicht einmal den kleinen Gabriel an, so sehr setzte ihr der eine Gedanke zu – und da geschah’s eben. Sie entwischte mir und war ohne mich in das Schloß gelaufen, und der Herr Hofmarschall hat sie im Gange vor dem Krankenzimmer ertappt. … Wie es dann gekommen ist, ob sie hat schreien wollen, und er hat ihr deshalb die Kehle zugedrückt, oder ob er’s in der wüthenden Eifersucht gethan hat, das weiß Niemand, und an die Sonne wird’s auch niemals kommen; aber gethan hat er’s; ich weiß es von ihr selber, denn ich verstand ihr Wesen und ihre Augen so gut, als ob sie spräche. Im Anfange war ja ihr Kopf auch noch ganz klar, bis der Hofprediger gekommen ist und immer so in sie hineingeredet hat – da schrie sie endlich einmal auf, so gräßlich, wie Jemand, der gefoltert wird. Herr Gott, der ist gelaufen! Er hat’s nicht wieder probirt; aber sein Schönthun verfing auch nicht mehr – das arme Gehirn war nicht wieder in Ordnung zu bringen. … Nun habe ich Alles gesagt, und nun bitte ich Sie, nehmen Sie die Kette mit dem silbernen Büchelchen an sich –“

„In diesem Augenblicke doch nicht?“ rief Liane entsetzt. Sie trat an das Bett und bog sich über die Sterbende. Aus den geöffneten Lippen wehte es ihr schon wie aus einer Gruft entgegen; aber der Busen hob und senkte sich immer noch fast gleichmäßig. „Ich würde mich nie beruhigen, wenn sich ihre Augen im Momente der Berührung doch noch einmal öffneten und die Wegnahme ihres Kleinods als letzten Eindruck in sich aufnähmen,“ sagte die junge Frau zurücktretend. „Wenn Alles vorüber ist, dann holen Sie mich und sei es in tiefster Nacht. Ich will ihr das Document aus der Hand nehmen; Sie haben Recht, das muß ich selbst thun; aber bis dahin darf diese arme Hand nicht berührt werden. … Frau Löhn, es thut mir leid, allein ich muß Ihnen einen Vorwurf machen: Sie mußten damals den Zettel auf alle Fälle an die Adresse abgeben.“

„Gnädige Frau!“ fuhr die Beschließerin fast wild empor. „Das sagen Sie jetzt, wo Alles gut ausgeht – aber damals? Ich stand mutterseelenallein; die ganze Gesellschaft hatte ich gegen mich. Männern, wie dem alten Herrn und dem Pfaffen, war ich nicht gewachsen, da werden gescheidtere Köpfe als ich zu Schanden – und der junge Herr, der die Sache hätte ausfechten sollen? Du lieber Gott! Ja, wenn man sie, wie den blauen Schuh, unter die Glasglocke hätte legen können!“ Eine tiefe Gluth schoß der jungen Frau in die Wangen, und die Beschließerin verstummte erschrocken. „Ach, was schwätz’ ich da! Es ist ja Alles gut gemacht,“ verbesserte sie sich kleinlaut. „Aber damals war’s schlimm. Gnädige Frau, Sie haben’s ja heute selbst gehört, daß er den armen Jungen, wie einen Hund aus dem Wege gestoßen hat. … Ich will Ihnen sagen, wie die Sache gekommen wär’: Der gnädige Herr hätte mir den Zettel aus der Hand genommen und ihn den beiden anderen Herren gezeigt; die hätten hellauf gelacht und ihm gesagt, daß sie das besser wissen müßten, denn sie seien Tag und Nacht um den Kranken gewesen. Und der Betrug wär’ auf mir sitzen geblieben, so gewiß, wie zwei mal zwei vier ist, so gewiß, wie sie mich zum Schloßthore ’nausgepeitscht hätten. … Nein, nein, da hieß es, aufpassen und warten. … Ja, wenn ich müßte, was auf dem Zettel steht, das wäre noch anders; aber ich stand dem sel’gen Herrn nicht so nahe beim Schreiben, und wie er mir das Papier hinhielt, da hatte ich vollauf zu thun, um die Adresse herauszubuchstabiren. … Es ist noch gar nicht lange her, da hab’ ich der Frau einmal in ihrem tiefsten Morphiumschlafe das Büchelchen abgenommen, um mir die Sache anzusehen; aber das Ding ist nicht aufzubringen; man mag es ansehen, wo man will, es ist wie zusammengehämmert; kein Schloß, kein Drücker ist zu finden – ich glaube, es wird aufgebrochen werden müssen.“

„Desto besser,“ sagte Liane. Sie trat an die Glasthür und winkte Gabriel herein. Es war spät geworden, viel zu spät für die junge Frau, um Mainau noch eine Mittheilung zu machen, bevor er zu Hofe ging, und er hatte ihr ja gesagt, er müsse aus besonderen Gründen der Einladung folgen. Fast war es auch für sie zu spät, noch Toilette zu machen. Ihr ganzes Gefühl empörte sich: schmücken sollte sie sich, vor dem Spiegel stehen in diesen furchtbaren Stunden, wo alte, verschollene Sünden zum Austrag kommen mußten. … Sie verließ rasch das indische Haus, um dennoch Mainau aufzusuchen und ihm in flüchtigen Umrissen das Nöthigste mitzutheilen; aber er war nicht zu finden, und ein Lakai sagte ihr, der gnädige Herr sei in Folge der Wolkershäuser Nachrichten noch einmal fortgegangen, wohin wisse er nicht, vielleicht zum Schloßgärtner. Sie ging mit schwerem Herzen in ihr Ankleidezimmer.




24.


Auf dem weiten Parterre vor dem Schönwerther Schlosse hielt die Equipage mit den Apfelschimmeln, und dicht am Portale stand der Glaswagen des Hofmarschalls. Dem wohlgenährten, gesetzten Kutscher auf dem Bocke machte sein Gespann keine Mühe. Es waren schöne, sanftmüthige Pferde; sie standen wie die Lämmer, während die Apfelschimmel drüben wildschnaubend Funkenregen aus dem Kies stampften.

„Die Bestien!“ knurrte der Hofmarschall, der sich im Rollstuhle die Treppe hinabtragen ließ. Er hätte gehen können, allein im Hinblicke auf so manche anhaltende Stehmarter in Gegenwart der allerhöchsten Herrschaften mußte er mit seinen Kräften haushalten.

Drunten im Vestibül ging Mainau wartend auf und ab, und in dem Augenblicke, wo die Lakaien den Rollstuhl auf dem Mosaikfußboden niedersetzten, kam auch ein Mann aus einem Seitencorridor. Als er den alten Herrn erblickte, verdoppelte er seine Schritte und verließ das Schloß durch die große Glasthür.

Der Hofmarschall reckte sich in seinem Stuhle empor, als traue er seinen Augen nicht. „Wie, war denn das nicht der Lump, der Dammer, der Knall und Fall fortgejagt werden mußte?“ rief er zu Mainau.

„Ja, Onkel.“

„Nun, in des Kukuks Namen – wie kommt denn der Mensch dazu, so sans façons hier durchzugehen?“ wandte er sich scheltend an die Lakaien.

„Gnädiger Herr, er hat in der Domestikenstube sein Abendbrod gegessen,“ antwortete einer derselben zögernd.

Der Hofmarschall schnellte empor; er stand kerzengerade auf seinen kranken Beinen. „In meiner Domestikenstube? An meinem Gesindetische?“

„Lieber Onkel, über diese Domestikenstube und diesen Eßtisch habe ich doch vielleicht auch ein klein wenig zu verfügen – wie?“ sagte Mainau gelassen. „Dammer hat mir Nachrichten aus Wolkershausen gebracht; er kann erst morgen zurück reiten; soll er inzwischen hier in Schönwerth hungern? … Es war eine Tactlosigkeit von ihm, daß er Deinen Weg gekreuzt hat; im Uebrigen war er mit meiner Erlaubniß da.“

„Ach so, ich verstehe! Du bist ja Philanthrop und hast jedenfalls aus Wolkershausen eine Besserungsanstalt, eine Art Verbrechercolonie gemacht – sehr gut!“ Der Hofmarschall ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen.

„Dammer hat den Respect Dir gegenüber aus den Augen gesetzt. Es war selbstverständlich, daß er aus Schönwerth entfernt wurde.“ Mainau sprach mit unerschütterlicher Ruhe. „Aber man hatte ihn auch zu verschiedenen Malen furchtbar gereizt. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es mit einem Menschen, nicht aber mit einem Hunde zu thun haben, den wir für eine natürliche und gerechte Opposition peitschen.“ Die hohe Röthe, die bei diesen letzten Worten seine Wange bedeckte, bewies, daß er sich recht gut des Momentes erinnere, wo er sich durch seinen Jähzorn hatte hinreißen lassen, die Hand so unwürdig gegen einen Menschen zu erheben. „Zudem litt ein Anderer, Unschuldiger, sein alter Vater, unter der allzu harten Strafe der sofortigen Entlassung. Er hat einen strengen Verweis erhalten und ist nach Wolkershausen versetzt worden. Damit war wohl die Sache ausgeglichen.“

„So? meinst Du? Ein famoser Ausgleich zwischen dem Hofmarschall von Mainau und einem Halunken! Gut – es rollt sich eben Alles ab, wie es muß, und der längste Faden hat ein Ende. … Willst Du die Güte haben, diesmal den Vortritt zu nehmen? Ich möchte Deine wilden Bestien nicht im Rücken haben.“

„Ich warte auf meine Frau, Onkel.“ Fast zugleich mit diesen Worten erscholl das Rieseln einer seidenen Schleppe vom

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_285.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)