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23.


Der Hofmarschall blieb den Tag über in seinem Zimmer – er aß allein und verlangte nicht einmal nach Leo. Die Schloßleute aber waren plötzlich wie aus den Wolken gefallen, denn der junge Herr hatte mit Leo und dem neuen Hofmeister drunten in einem Salon der gnädigen Frau gespeist … Er hatte auch den Arzt aus der Stadt holen lassen und war selbst mit ihm in das indische Haus zu der Sterbenden gegangen. Auf seinen Befehl und in seinem Beisein hatte man mit lautloser Behutsamkeit die schadhaften Stellen im Plafond des verwüsteten Hauses zudecken müssen, damit kein belästigender Sonnenstrahl hereinfalle – die exotische Thierwelt, die das Thal von Kaschmir bevölkerte, war in ihre Hütten und Schlupfwinkel eingesperrt worden, und „der junge Herr“ hatte die Röhre des nahen, rauschenden Laufbrunnens eigenhändig geschlossen – die scheidende Menschenseele sollte auch nicht durch das leiseste Geräusch beunruhigt werden.

Diese Anstalten genügten, um das wandelbare Völkchen der Bedientenseelen sofort umzustimmen. Die sterbende Frau, die man so lange Jahre eine unnütze Brodesserin gescholten, war mit einem Male eine arme Dulderin, und weil Baron Mainau mit einem so feierlichen Ernste aus dem indischen Garten zurückgekehrt war, schwebten die Lakaien noch leiser als sonst auf den Zehenspitzen durch die Gänge, und in den Ställen und Remisen wurde alles unnöthige Poltern, alles Singen und Pfeifen vermieden, als ob die Sterbende im Schlosse selbst läge. … Auch Hanna ging mit rothgeweinten Augen umher. Sie hatte heute zwei merkwürdige Dinge erlebt; einmal hatte sie durch das Schlüsselloch des Speisesalons gesehen, wie der Herr Baron „ihre Dame“ geküßt hatte – und dann war sie zum ersten Male im indischen Garten gewesen. Eine Tasse Bouillon für die Löhn in den Händen, war sie in das Sterbezimmer eingedrungen – seitdem weinte sie unaufhörlich und behauptete in der Küche, sie sei hier unter lauter Barbaren und Einfaltspinsel gerathen, denn Niemand, die harte, grobe Löhn ausgenommen, habe sich um die arme Kranke gekümmert, die doch, das sähe der gebildete Mensch auf den ersten Blick, ein aus der Fremde hergeschlepptes Fürstenkind sein müsse.

Auch Mainau hatte einen tieferschütternden Eindruck im indischen Hause empfangen. Das Antlitz, nach dessen verhüllendem Schleiern er einst in brennender Neugier vergeblich die Hand ausgestreckt, und welches er dann voll Abscheu geflohen, in dem Wahn, es müsse das Kainszeichen des tiefen Falles, das Grinsen des Irrsinns in seinen verheerten Zügen tragen – es hatte vor ihm auf dem Kissen gelegen, bleich, in friedlicher, unentstellter Schönheit – nicht Onkel Gisbert’s treulose Geliebte, nicht Gabriel’s Mutter – ein sündenlos sterbendes Kind, ein weißes Rosenblatt, das ein Lüftchen sanft aus dem heimischen Kelche gelöst und zum Sterben auf die Erde niedergestreut hat. … Der scharfe, unbestechliche Geist der zweiten Frau hatte eine grellleuchtende Fackel in das verschüttete Dunkel einer fernen Zeit geworfen; ein noch intensiveres Licht aber ging von diesem stillen Gesichte aus. Mainau wußte jetzt, daß sein tadellos ehrenhaftes Schönwerth Fallthüren des Verbrechens genug aufzuweisen habe – sie waren der Boden unter seinen Füßen gewesen, und er hatte es nie für nöthig gefunden, auch nur einmal prüfend auf diesen Boden zu klopfen, so abenteuerlich auch die Dinge, die sich auf demselben abgespielt, damals seinen jugendlichen Augen erschienen waren. Er fühlte sich tiefschuldig, der frivole Mann, der nur allzu gern sein blindes Vertrauen auf des Onkels unbestechliches Rechtsgefühl innerlich cajolirt hatte, um sich durch unliebsame Gründlichkeit, langweilige Untersuchungen im Lebensgenuß nicht stören zu lassen. … Hier hatte er in der That kein Mißtrauen gehegt; aber bei dieser augenblicklichen, unerbittlich richtenden, inneren Einkehr mußte er sich zu seiner Beschämung sagen, daß er noch vor wenigen Monaten bei dem ersten beleuchtenden Blitze auch „dieser unangenehmen Geschichte“ möglichst aus dem Wege gegangen sein würde. … Daß er nun, durch ein charaktervolles Weib aufgerüttelt, Urtheil und Willenskraft zusammenraffte und handelnd eingriff, änderte nicht viel mehr an dem, was er durch Indolenz und Egoismus gesündigt. Die Augen unter den zugesunkenen Lidern sahen nicht mehr, wie er das gemißhandelte Kind, das im thränenlosen Schmerze die letzten Athemzüge der Mutter bewachte, emporzog und an sein Herz nahm – die Frau hörte nicht, wie der arme „Bastard“ liebevoll „mein Sohn“ genannt wurde – sie empfand das so wenig wie der Knabe selbst, der keines Anderen Kind sein wollte, als ihr, der Scheidenden, an deren Herz ihn die harte, kalte abscheuliche Welt draußen zurückgestoßen hatte. … Noch konnte Mainau dem Hofmarschall keinen anderen Vorwurf machen, als daß auch er blind geglaubt habe. Bei der Unterschiebung des Documentes war er nicht betheiligt gewesen – er hatte sich heute zu unbefangen und sicher auf das Papier berufen, das nicht mehr existirte. Der Hofprediger ging hier auf eigenen Wegen, wie er auch der Briefaffaire jedenfalls eine zufriedenstellende Wendung dem Hofmarschalle gegenüber zu geben gewußt hatte, ohne die Wahrheit zu verrathen. Das sagte sich Mainau zur Selbstbeschwichtigung, und doch konnte er den Verdacht, ja, die schmerzliche Ueberzeugung nicht abschütteln, daß der Ruf der Mainaus geschädigt werde, sobald man fortfahre, den Schutt von jener halbverschollenen Zeit wegzuräumen. …

Zur späten Nachmittagszeit ging Liane auch in das indische Haus. Mainau hatte dringende Botschaft aus Wolkershausen erhalten und mußte sich für einige Stunden in sein Arbeitszimmer zurückziehen – Leo aber befand sich vortrefflich unter der Aufsicht des neuen Hofmeisters, an den er sich merkwürdiger Weise sogleich attachirt hatte. … Eine ungewohnte Stille umfing die junge Frau, als die Thür des Drahtgitters hinter ihr zugefallen war – ein so athemloses Schweigen, als habe die über dem Bambushause kreisende dunkle Gewalt auch alles pulsirende Leben aus der Luft und von der Erde weg aufgesogen. Seltsam – Onkel Gisbert’s Lieblinge gingen zusammen heim. Seine prachtvolle Musa, die so muthig in den fremden, nordischen Himmel hinaufgestiegen war, lag wie hingemäht auf dem Rasenplatze – der Sturm hatte sie grausam zerpflückt – je eher diese Spielerei zerfiel, desto besser, hatte ja der Herr Hofmarschall gesagt. … Die junge Frau mußte über weithingeschleuderte Baumäste wegsteigen, die quer die Wege versperrten; sie ging ganze Strecken lang auf abgeschüttelten Rosenblättern, und da, wo sie vereinzelt auf freien, weiten Rasenflächen standen, waren die Kronen alter, dickstämmiger Rosenbäume scheinbar so mühelos abgeknickt, wie ein Kinderfinger einen mürben Blumenstengel zerbricht. … Zerstörung, wohin der Blick fiel – nur der Hindutempel strahlte nach dem Regenbade frischer und goldiger als je, und der Teich breitete sich glatt und blauglänzend zu seinen Füßen, als sei er der falsche Nachbar nicht gewesen, der gestern den Gischt seiner gepeitschten Wellen über die Marmorstufen hinweg bis in die Tempelhalle hineingeschleudert hatte. An seinen sumpfigen Ufern aber waren über Nacht Hunderte von weißen Seerosen aufgegangen – die nordischen Wasserblüthen lagen frisch und lebenathmend auf dem hingebreiteten Blätterpfühle, während die indische vergehend das Haupt senkte.

Was würde wohl im Innern des mörderischen Verfolgers drüben im Schönwerther Schlosse vorgegangen sein, wenn er einen Blick auf dieses Rohrbett hätte werfen können! O, dagegen war er geschützt! Liane hatte gesehen, daß selbst die Fenster seiner Wohnung, die nach dem indischen Garten gingen, förmlich verbarricadirt waren. … Von leuchtenderer Schönheit konnte die Bajadere auch damals nicht gewesen sein, wo sie ihm die vertrocknete Höflingsseele in verzehrender Leidenschaft aufgestürmt, als jetzt in der Verklärung der letzten Lebensstunden. Frau Löhn hatte den leichten Körper, „diese Schneeflocke“, noch einmal in die frischeste, weiße Muslinwolke gehüllt, „weil sie das immer so gern gehabt.“ Auf der unmerklich athmenden Brust lag der Schmuck der Goldmünzen, und die linke Hand umschloß das an einer Kette hängende Amulet. Diese durchsichtigen bläulichen Lider hoben sich wohl noch einmal – wenn die Augen verglasten, aber den lieblichen Zug von Glückseligkeit, in welchem die halboffenen Lippen bereits erstarrt waren, nahm sie mit hinab unter den rothen Obelisken.

„Denken Sie um Gotteswillen nicht, daß ich um die arme Seele da weine, gnädige Frau,“ sagte die Löhn mit gedämpfter Stimme, als ihr Liane liebevoll unter die starkgeschwollenen Lider sah.


(Fortsetzung folgt.)




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