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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

für eine Weile als Gesprächsstoff zu dienen und von einer Million neugieriger Augen eine Weile auf dem Flusse angeglotzt zu werden. Und das Schlimmste kommt hinten nach: chronisches Herzklopfen, Herzfehler aller Art, nervöse Zufälle, das sind die Folge der unnatürlichen Ueberanstrengung der körperlichen Organe, und Viele wandeln im Mannesalter als entnervte Greise einher, die in der Jugend den Preis des Athletenthums errangen. An warnenden Stimmen hat es wahrlich nicht gefehlt. Statistische Untersuchungen haben dargethan, wie gering der Procentsatz ist, der von den Preis-Rennern, -Boxern und -Ruderern ein hohes Alter erreicht.

Plötzlich kam Bewegung in die Masse, und – da waren sie. Ein Freudengeheul von tausend und aber tausend Stimmen, das sich am Flusse wie eine brandende Meereswelle fortpflanzte, kündigte die Ersehnten an, und bald kamen sie an der Flußbiegung heraus, zwei lange Boote mit je neun Insassen, sich dem Blicke stetig vergrößernd und pfeilschnell vorwärtseilend. Die Menge bewegte sich wie ein Aehrenfeld unter dem Hauche des Westwindes; Taschentücher flatterten, Hüte wurden geschwenkt, und als die Ruderer an uns vorbeischossen – „O weh, die Handschuhe!“ dachte ich – die blaubeflaggten Oxforder waren um eine halbe Bootslänge voraus.

„Oxford! Oxford! Gut gerudert, Oxford! Du gewinnst, Oxford!“ tönte es um mich her, tönte es von den Wagen, tönte es vom Flusse, wälzte es sich am Ufer lawinenartig fort.

So hatte ich denn trotz der Voraussagung des Hornbläsers aller Wahrscheinlichkeit nach gewonnen, und trübselig überlegte ich in meinem Herzen, was angenehmer sei, Handschuhe einer hübschen fremden Hand anzuziehen, oder von hübscher Hand behandschuht zu werden, als ein Themseferge neben mir mich aus meiner Ungewißheit erlöste.

„Wenn Oxford gewinnt, so werd’ ich Lord Mayor im nächsten Jahre. Sie haben jetzt die günstige Flußseite; in Kurzem wird sich das ändern; überdies sind sie schon vollständig ermüdet, und ehe sie Barnes-Bridge erreichen, ist’s aus mit ihnen. Ich würde keinen Heller auf sie wetten. Sie, Herr?“

Die Boote waren bald dem Auge entschwunden, und nicht lange mehr konnte das Resultat verborgen bleiben. Die ganze Fahrt beträgt gewöhnlich nur zwanzig Minuten – die diesjährige nahm des widrigen Windes wegen zweiundzwanzig in Anspruch – und erstreckt sich über einen vier und ein Viertel englische Meilen langen Schauplatz. Von Putney nimmt sie ihren Ausgang. Dort hatten sich am Morgen um elf Uhr die Wettruderer, zum Kampfe bereit, eingefunden; in ihrer Nähe hielten zwei Dampfer mit Vertretern von Oxford und Cambridge, der Preßdampfer und der des Schiedsrichters mit dem Prinzen von Wales und dem Herzoge von Edinburgh an Bord.

Als die Zeit der Abfahrt nahe war, entledigten sich die achtzehn Kämpfer ihrer Hüte und Jacken, die an Bord des Schiedsrichterdampfers gebracht wurden, und setzten sich in Positur. Elf Uhr fünfzehn Minuten ward die übliche Frage gestellt: „Seid Ihr Alle bereit, Gentlemen?“ und als sie bejaht wurde, erfolgte das Losungswort „Vorwärts!“ und sofort ließen die Männer, welche die beiden Boote von festgeankerten Schaluppen aus am Steuerknopfe festhielten, die Hände los, und die Jagd war eröffnet. Cambridge begann mit vierzig Ruderschlägen in der Minute, während Oxford, ganz im Gegensatze zu seiner im vorigen Jahre beobachteten Politik, sich auf sechsunddreißig beschränkte. Es dauerte nicht lange, so waren die Hellblauen an der Spitze, und bei Rose Bank hatten sie schon drei Viertel Länge voraus. Vor Hammersmith aber ermannten die Oxforder sich und holten den Verzug theilweise ein; beim Durchfahren unter der dortigen Brücke waren die Schiffsschnäbel wieder gleich, wie beim Anfange der Fahrt; bald sah man beim Bathing Place, daß die Dunkeln ihre Gegner um eine volle halbe Bootslänge hinter sich gelassen. Die Schuld lag weniger an einer neuen Kraftanstrengung der Einen oder Ermattung der Anderen, sondern an dem Winde, der hier mit großer Kraft einfiel, das Wasser rauh und stürmisch machte und dadurch dem Cambridger Boote unverhoffte Schwierigkeiten in den Weg legte, während das vortrefflich gebaute Boot der Gegner mit graciöser Leichtigkeit durch die Wellen schnitt. Dieser Triumph der Dunkelblauen fand überall die größte Sympathie, besonders bei dem Volke an den Ufern, das sich gern auf Seite der fünfmal nacheinander Besiegten stellte. Auch auf den Dampfern, welche die Wettboote in nächster Nähe begleiteten, herrschte freudige Aufregung; nur auf dem Dampfer, der die Cambridger Studenten und bemoosten Häupter trug, so wie bei Allen, die hohe Wetten auf die Hochschule an dem Cam gemacht, wogen bange Besorgnisse vor. Aber nur für kurze Zeit. Der plötzliche Vorstoß Oxfords war das letzte Aufflackern einer in regellosen Anstrengungen verzettelten Kraft.

Als die Boote die Brücke von Barnes passirt hatten, flogen sofort mehrere Brieftauben in die Luft, um der Hauptstadt zu verkünden, daß die Oxforder eine halbe Länge zurück und desorganisirt seien und Cambridge ohne Zweifel siegen werde. Und so ging’s in Erfüllung. Die Entfernung zwischen den beiden Kielen vergrößerte sich mit jeder Secunde, und als sie am Ziele anlangten, hatte Cambridge mit drei vollen Bootlängen den Preis, das blaue Band der Themse – das sechste Mal nacheinander –, gewonnen.

Nachdem die beiden Mannschaften wieder nach Putney zurückgerudert und ihre Rudercostüme mit einem fashionablen Anzuge vertauscht, begaben sie sich, nicht wie bisher zum Bankett des Lord Mayor, mit dem die Oxforder sich überworfen, sondern in das „Criterion“, die neueste Schöpfung der Allerweltsgastwirthe Spiers und Ponds, ein Conglomerat von Bierhaus, Café, Musikhalle, Theater und Speisehaus, in Piccadilly, tranken dort bei einem fröhlichen Diner ihre gegenseitige Gesundheit, und hielten die in England unerläßlichen, nie endenden Nachtischreden, bei denen Jeder im Besonderen als der Superlativ irgend einer Tugend hingestellt wurde.

Nicht minder lustig ging’s unterdessen in den türkischen und griechischen Cafés des Haymarket zu, zumal nach Mitternacht, als Alhambra, Argyll-Rooms und die übrigen Ressorts der weiblichen Demi-Monde ihre Gäste vor die Thür gesetzt. Die Blauseuche grassirte hier in souveräner Stärke und zwar entschieden in der helleren Nüancirung. Wehe dem dunkelblau Decorirten, der in diese Forts der Universität Cambridge einzutreten wagte! „An die Luft mit ihm! Hinaus!“ erscholl’s von allen Seiten, und als der Wirth sich auf die Seite des Armen stellte, wurden Kaffeetassen, Gläser und Spiegel zertrümmert, Tische umgeworfen und ein wahres Indianergeheul ausgestoßen, bis die Polizisten des Districts in Reih und Glied aufzogen und den Platz säuberten.

Ich aber zog am andern Tag dem kleinen Backfische die Handschuhe Nr. 5¾ an, eine Procedur, bei der ich mich nicht im Geringsten beeilte.




Blätter und Blüthen.


Ein russischer Nationaltanz. (Mit Abbildung, S. 263.) In einem russischem Dorfe vergeht kein Sonntag ohne Tanzvergnügungen. Obschon die Auswahl der Tänze nicht groß ist, weil die russischen Bauern und Bäuerinnen bis jetzt noch keine Ahnung von den verschiedenen Tänzen haben, wie Walzer, Polka, Galopp, Française, Cotillon, so finden sie doch großes Vergnügen an ihren eigenen Nationaltänzen und hauptsächlich an einem Tanz, Horowod genannt, welcher von allen russischen Landleuten gekannt und mit Liebe jeden Sonn- und Festtag getanzt wird. Der Name Horowod ist hergeleitet aus zwei Wörtern hor und wodity, das heißt Chor-führen; dieser Tanz oder dieses Spiel, wie es die Bauern nennen, besteht darin, daß die jungen Leute einen Rundkreis bilden, sich an den Händen festhalten, im Kreise drehen und mit lauter Stimme Volkslieder singen, wobei besonders die jungen Mädchen sehr laut und wie aus einem Munde zu singen pflegen. Es giebt hierzu mehrere Volkslieder, die nur zu diesem Zwecke gedichtet sind. Zwei junge Leute gehen dann in den Kreis hinein und machen die Bewegungen, welche zu dem Inhalt des Liedes passen; sie wählen aus dem Kreise zwei junge Mädchen; dieselben tanzen mit ihnen und machen sehr graziöse Bewegungen mit den Schultern, langsam oder schnell, drehen sich dann um die jungen Leute herum, lassen dieselben vorbeiziehen und bedecken ihr Gesicht recht schelmisch mit ihren breiten weißen Hemdärmeln; dann legen sie sich auf die Schultern des jungen Mannes und sehen ihm in’s Gesicht. Dieses Spiel ist sehr reich an verschiedenen Touren, Stellungen und Bewegungen. In unserer heutigen Abbildung ist eine Tour dargestellt, welche darin besteht, daß die jungen Mädchen ihre Taschentücher nehmen, dieselben an zwei Ecken halten und sie graziös auf den Hals ihrer Tänzer werfen, welche gewissermaßen dadurch ihre Gefangenen werden. Diese lassen sich alsdann an dem improvisirten Seile willenlos herumführen und hinziehen, wohin es den Tänzerinnen gefällt. Unsere Aufmerksamkeit wird zunächst gefesselt durch die beiden Tänzer, die steif dastehen wie ein paar Baumstämme, was sehr charakteristisch nach der Natur aufgefaßt ist. Ueberhaupt fehlt den jungen Leuten, den jungen Mädchen gegenüber, jegliche Gewandtheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_265.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)