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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

letzten sieben Jahre könnte man mit vollem Rechte noch den dicken Tichborne hinzusetzen. Diese Ereignisse aber, so gering auch ihre Zahl, werden mit lobenswerthem Eifer discutirt; zumal hat die Universitätsbootfahrt sich in den letzten Jahren zu einer stetig wachsenden Popularität emporgeschwungen und sogar eine gesellschaftliche Krankheit erzeugt. Sie heißt „das blaue Fieber“.

„Hellblau oder dunkelblau?“ fragt Dich der Freund auf der Straße beim Händeschütteln.

„Wie können Sie für das häßliche Dunkelblau sein?“ schmollt die semmelblonde Miß, der das lichte Blau vortrefflich zu Gesichte steht.

Und diese Bläue schleicht sich in alle Verhältnisse des Londoner Lebens hinein. Blaue Cravatten und Orden bei den Herren, blaue Pantoffel, Haarnetze und Mieder bei den Damen bezeichnen den Beginn der Blausucht; während aber Jene gewöhnlich es bei diesen beiden Symptomen bewähren lassen, nimmt beim weiblichen Geschlechte die Manie immer mehr zu, je näher die Fahrt herankommt, bis endlich der Tag der Entscheidung sie von oben bis unten in einer einzigen blauen Umhüllung erblickt. Sogar die weiße Wäsche hat sich in Folge intensiverer Stärkung zu Ehren des Festes etwas verblaut, und Diejenige, der die Natur die „blauen Veilchen der Aeugelein“ verliehen, ist sicher, die Bewunderer auf ihrer Seite zu haben. Der Liebesgott aber ärgert sich, da die Liebesseufzer in dieser blautollen Zeit auf blauem und nicht auf rosenrothem Papiere niedergeschrieben werden; und wer sich sonst noch über die bis zur Seekrankheit wiederkehrende Farbe ärgert, der möchte mit Heine singen:

„Sie haben mich gequälet,
Geärgert blau und blaß!“

Und der Wettergott selbst nahm an der Verschwörung Theil, indem er das schönste Himmelszelt, das die rauchige Metropole seit October geschaut, über der Themse ausspannte.

Wie viele neugierige Augen am 28. März von den beiden Themseufern und den Flußbrücken auf die zwei Kähne hinschauten, ich weiß es nicht. Nach meiner nicht hochgreifenden Berechnung waren es wenigstens so viele, wie Xerxes bei seinem Einfalle in Griechenland über den Hellespont führte. Wenn sich der große Riese, London genannt, einmal zu einem Feiertagsausfluge reckt und streckt, so darf man nur nach Hunderttausenden rechnen. Die ganze Strecke zwischen Putney und Mortlake, dem Anfangs- und Ausgangspunkte der Wettfahrt, bot den Anblick eines gefüllten Amphitheaters dar, dessen höchste Sitze die Häuser im Hintergrunde und eine Wagenburg bildeten; die mittleren Sitze, der Landstrich zwischen den Wagen und dem Flusse, wird von Schaulustigen zu Fuße eingenommen, und das Parterre bildete die Themse selbst, die von einer Einfassung von Kähnen, Nachen, Barken, Canoes, Gondeln und wie die vielen Fahrzeuge der ruderlustigen Engländer auch heißen mögen, hüben und drüben bedeckt war. Die verschiedenen Brücken über dem Fluß sahen aus, als hätte sich ein schwarzer Ameisenhaufen auf ihnen niedergelassen, so starrte Kopf an Kopf; Alles drängte, stieß, schrie und schimpfte. Am vortheilhaftesten und bequemsten – wenn man nicht zufällig einen Platz auf den vier die Wettruderer begleitenden Dampfern erhielt – gestaltete sich die Aussicht auf der Eisenbahnbrücke von Barnes, wo der Zug von Waterloo-Station die Passagiere gegen die Summe von fünfzehn Schilling, gleich fünf Thalern, absetzte, um sie nach Verlauf von anderthalb Stunden wieder abzuholen.

Emsig fuhren in der freigelassenen Fahrgasse die Boote der Themsepolizei hin und her, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Roughs und Rowdies der Londoner Straßencrawalle, für die der Ausdruck Pöbel eine zu schmeichelhafte Bezeichnung wäre, zeigten sich auch unter den Insassen der Gondeln vertreten, und trotz Zuruf und Zurede wagten sich allenthalben freche Subjecte aus der Fahrlinie hinaus, bespritzten durch malitiöse Ruderschläge die damenbesetzten Kähne mit Ladungen von Themsewasser und suchten dann, von der Polizei verfolgt, schleunigst das Weite. Am Ufer entlang erscholl Gesang und Musik; Drehorgeln und Ziehharmonikas spielten den Verschwörungschor und den Walzer aus Lecocq’s „Fille de Madame Angot“; schwarze Minstrels sangen Negerlieder und Gassentroubadours gaben komische Gesänge, die letzten Producte der hauptstädtischen Musenhallen, zum Besten; selbst die komische Muse war durch das Puppentheater von Punch und Judy repräsentirt.

In dem Gewühle entdeckte ich auch meinen alten Bekannten, einen bejahrten Hornbläser, der einsam und allein an den Straßenecken der Hauptstadt melancholische Weisen lustig und lustige Weisen melancholisch vorzutragen pflegt. Er gehört zu jener Classe, die Dickens „schäbig-nobel“ nennt, weil sie den Bettlermantel mit dem Anstande eines Königs tragen und unter ihren Lumpen immer noch der Gentleman hervorschaut. Der Meinige hat unzweifelhaft bessere Tage gesehen, liebt es, seinen Worten lateinische Brocken, die Reminiscenzen einer höheren Schulbildung, beizumischen, und läßt die ihm angebotenen Geldstücke wie etwas Nebensächliches, ohne zu danken, in die Taschen seines weiten Havelocks verschwinden. Er hatte eben das Lied vom Prinzen von Wales beendet und putzte das Mundstück seines riesigen Horns ab, als ich ihm auf die Schulter klopfte.

„Quid agis, dulcissima rerum?“ (Was machst Du, mein gutes Ding?) redete ich ihn an; „Wie steht’s, old boy? Wie geht’s mit dem Geschäfte?“

„Ich meinerseits wünschte, es wäre alle Tage Wettfahrt!“ antwortete er und wies auf seine mit Kupfer gefüllte Tasche. „Quaerenda pecunia primum,“ fügte er, sich wegen seiner ungewöhnlichen Geldgier entschuldigend, hinzu; „zuerst Geld! Denn ohne Geld plebs eris, bleibt man ein Lump. Ich fürchte nur, ich werde zeitlebens ein Lump bleiben! Sie haben doch nicht etwa auf Oxford gewettet?“

Ich hatte ein Veilchen im Knopfloch.

„Jawohl,“ entgegnete ich.

„Sie könnten ebensogut beim Derby-Rennen auf eine lahme Stute wetten. Oxford ist verloren. Ich machte vorigen Montag eine Kunstreise“ – er blickte lächelnd auf sein riesiges Instrument – „nach Putney und sah die Dunkelblauen rudern. Mehercle, eine geflicktere Lehrlingsbande habe ich selten am Riemen ziehen sehen. Ihr Stroke (der zunächst beim Steuermann sitzende, nach dessen Ruderschlag sich die Andern richten sollen) war erträglich, aber die übrigen Gründlinge arbeiteten jeder auf eigene Rechnung und das Boot flog bei glattem Wasserspiegel wie auf einer Schaukel auf und nieder. Und dazu haben sie ein weit besseres Fahrzeug, während die Cantabs das ihrige schon dreimal in diesem Jahre gewechselt und noch kein gutes haben. Ich rathe Ihnen, wetten Sie noch schnell den gleichen Betrag auf Cambridge.“ Und damit steckte er das Horn wieder an den Mund und blies das Frühlingslied aus ‚Babil and Bijou‘.

Der Alte hatte mit seinem Urtheile über die dunkelblaue Universität Recht. Die Oxforder waren ihren Gegnern an Körpergewicht und physischer Kraft unterlegen, waren durch einige neuerdings im Personal erfolgte Veränderungen nicht an einander gewöhnt, und da sie eine Woche später auf der Themse zu den Probefahrten erschienen, besaßen sie die so unentbehrliche Kenntniß des Terrains weit weniger gründlich als die Cambridger. Die öffentliche Meinung erklärte sich daher auch bald gegen sie, und wer auf ihre trügerische Karte eine Wette einging, galt wenigstens für einen sonderbaren Menschen. Trotzdem stand ich bei Oxford, obgleich ich nicht zu der letzteren Kategorie gehörte. Einmal, weil ich für diese Hochschule eine besondere Verehrung habe, weil unser Landsmann, Max Müller, dort docirt und – Nein, seien wir aufrichtig. Ein kleiner, hübscher englischer Backfisch mit hellblauen Augen saß mir bei Tische gegenüber und bot schalkhaft Wetten für Cambridge aus, und da ich an den Händchen des hübschen Mädchens gerne ein Paar Glacés, von meinem Gelde gekauft, sehen möchte, so nahm ich die Wette um ein Paar echter „French Kid-gloves“ an, unter der Bedingung, sie ihr selbst anziehen zu dürfen.

„Um so besser!“ lachte sie; „nichts widerlicher als das erste Hineinkriechen!“

Spaßvögel am Ufer hatten sich unterdeß mehrere Male den Spaß erlaubt, falschen Alarm zu machen, als seien die Preisruderer schon in Sicht. Aller Hälse reckten sich, die Gegenstände des Neides für die männlichen und der maßlosen Bewunderung für die weiblichen Beschauer zu Gesichte zu bekommen. „Arme Kerle!“ dachte ich bei mir, „ich beneide euch nicht.“ Monatelang sich einer anstrengenden und langweiligen Dressur auszusetzen, eine bis in’s Einzelnste vorgeschriebene Diät zu befolgen, sich des Weins und des Tabaks zu enthalten, geistige Arbeiten nach Kräften einzuschränken und sich zu einem modernen Gladiator auszubilden, blos um der unterhaltungsbedürftigen Hauptstadt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_264.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)