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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Verkehrsruhm war in Europa je so wenig schläfrig, wie England, keines stets so frisch bei der Hand, um neue Vortheile sofort zu benutzen. Ein Land mit großen Kaufmannsfürsten ist nie so prompt; ihr Verkehr schlüpft immer mehr und mehr in Routine. Ein Mann mit großem Vermögen, wenn auch noch intelligent, denkt immer: „ich habe ein großes Einkommen und will es mir erhalten. Wenn Alles so bleibt, wie es ist, bin ich sicher, aber Veränderungen könnten dieses Einkommen gefährden.“ Deshalb ist ihm jede Aenderung der Verhältnisse ärgerlich, und er denkt so wenig als möglich daran. Aber ein neuer Mann, der sich noch emporarbeiten muß, weiß, daß solche Aenderungen zu günstigen Gelegenheiten für ihn werden können. Er sieht sich immer danach um, und so wie er eine findet, benutzt er sie. Die rohe und gemeine Structur des englischen Verkehrs ist das Geheimniß seines Lebens; denn sie enthält die „Geneigtheit zur Variation“, welche im menschlichen, wie im Thierbereiche das Princip des Fortschrittes ist.

Bei diesen beständigen Verborgungen ist Lombardstreet die große Vermittlerin, eine Art von beständigem Makler zwischen ruhig sparenden und thätig arbeitenden Districten. Politische Oekonomisten sagen, daß das Capital sich den gewinnreichsten Gewerben zuwende und sich schnell von weniger gewinnreichen Gewerben zurückziehe. Aber in gewöhnlichen Ländern ist dies ein langsamer Proceß, und Einige, die ihn mit Augen sehen wollen, um sich von einer abstracten Wahrheit zu überzeugen, zweifeln daran. Doch in England wäre der Proceß sichtbar genug, wenn man nur die Bücher der Banquiers und Wechselmakler besichtigen könnte. Ihre Wechselportefeuilles sind in der Regel voll von Wechseln, die in den gewinnreichsten Gewerben gezogen wurden, und vergleichungsweise leer an solchen aus weniger gewinnreichen. So läuft englisches Capital ebenso sicher und augenblicklich nach Orten des größten Bedarfs und Gewinnes, wie Wasser, um sein Gleichgewicht herzustellen.

Diese wirksame, stets flüssige Organisation giebt uns einen ungemeinen Vortheil im Wettstreite mit im Creditwesen weniger vorgerückten Staaten. Englisches Capital steht fähigen und sachverständigen Personen für ein neues Gewerbe immer sofort zur Verfügung. In Ländern, wo es wenig Geld zu verleihen giebt und dieses zögernd und widerstrebend verliehen wird, werden unternehmende Geschäftsleute lange zurückgehalten, weil sie nicht zugleich das Capital borgen können, ohne welches Geschicklichkeit und Kenntniß nutzlos sind. Alle plötzlichen Unternehmungen kommen nach England und enttäuschen dabei oft rationelle Wahrscheinlichkeit und die Prophezeiungen von Philosophen.

Diese „unbewußte Organisation des Capitals“ macht die Engländer nicht nur besonders lebhaft im Vergleich zu ihren Nachbarn auf dem Continente, um sich neuer mercantiler Begünstigungen zu bemächtigen, sondern auch fähig und kräftig, jedes Geschäft, dessen sie sich einmal regelmäßig bemächtigt haben, festzuhalten. Wie schon gezeigt, kann ein Neuling mit wenig eignem und viel geborgtem Capitale einen reichen Concurrenten, der blos mit seinem eigenen Gelde arbeitet, unterbieten, billiger verkaufen. Nun hat England eine ganz besondere Maschinerie, um neue Kräfte, welche sich mit niedrigen Preisen begnügen, in’s Geschäftsleben hineinzuziehen, und diese Maschinerie wird wahrscheinlich unseren weiteren Erfolg sichern, denn kein anderes Land wird so leicht darin mit Erfolg wetteifern können.

Die Hauptsache ist ganz klar, nämlich daß der englische Verkehr wesentlich mit geborgtem Capitale getrieben wird und wir nur durch die Verfeinerung unseres Banksystems befähigt sind, diesen Verkehr in dieser Massenhaftigkeit zu bewältigen. Aber genau im Verhältnisse zu dieser Macht steht dessen Empfindlichkeit, ich könnte wohl sagen, dessen Gefahr. Blos unsere Vertrautheit damit blendet uns für die merkwürdige Natur dieses Systems. Niemals war so viel geborgtes Geld in der Welt beisammen, wie jetzt in London. Von den vielen Millionen in Lombardstreet besitzen bei Weitem den größten Theil unsere Banquiers oder Andere auf kurze Frist oder gegen Zahlung bei Sicht, das heißt die Eigenthümer des Geldes könnten es jeden beliebigen Tag zurückfordern. In einer Panik*[1] thun es denn auch Manche, Würden sie plötzlich viel zurückfordern, so wäre unser Bank- und Industriesystem zugleich in großer Gefahr.

Einige dieser Depositen sind außerdem eigenthümlichen und sehr bestimmten Charakters. Seit dem deutsch-französischen Kriege sind wir in viel bedeutenderer Ausdehnung die Banquiers Europas geworden. Eine sehr bedeutende Summe ausländischen Geldes ist für verschiedene Zwecke hier in London niedergelegt worden. An einer anderen Stelle weist der Verfasser nach, daß das deutsche Reich während der Zahlungen aus Frankreich öfter zwischen zwanzig und dreißig Millionen Thaler in Lombardstreet gut gehabt und es, falls Alles auf einmal gefordert worden wäre, die Bank von England gesprengt haben würde.

Man könnte erwidern, daß dafür auch unsere jetzigen Mittel viel bedeutender seien; aber im Gegentheile giebt es und gab es niemals ein Land, in welchem das Verhältniß des reservirten baaren Geldes so gering war und ist, wie jetzt in England. Dafür giebt es ganz schlagende Beweise, aus welchen hervorgeht, daß wir, weit entfernt, uns auf die verhältnißmäßige Menge disponibeln Geldes in unseren Händen verlassen zu können, so ungeheuer wenig davon besitzen, daß ein Unbetheiligter von außen beinahe zittert, wenn er diese geringe Summe mit der Unermeßlichkeit des darauf gegründeten Credits vergleicht.

Die Ansammlung dieser unermeßlichen Summen in einem Orte und in wenigen Händen ist durchaus neu. Die Passiva unserer vier großen Londoner Actienbanken waren 1844 noch 10,637,000 und sind jetzt auf mehr als 60,000,000 Pfund gestiegen, die Privatdepositen der Bank von England von 9,000,000 auf 18,000,000 Pfund. Damals existirte nur ein ganz kleiner Theil des jetzigen ungeheuren Depositengeschäfts. Wir können uns deshalb für den Beweis der Sicherheit unseres Systems nicht auf lange Erfahrung berufen, denn die jetzige Größe dieses Systems ist durchaus neu. Offenbar mag ein System fähig sein, einige wenige Millionen zu reguliren, aber durchaus nicht so vielen Millionen gewachsen sein. So mag es denn auch mit Lombardstreet sein, so schnell war ihr Wachsthum und so ohne alles Beispiel ihr Wesen und Wirken. –

Die Gegenstände, welche man in Lombardstreet und rings um diese Geldwelt gruppirt sieht, sind die Bank von England, die Privatbanken, die Actienbanken und die Wechselmakler. Ehe wir jedoch diese einzeln schildern, müssen wir uns ansehen, was sie mit einander gemein und welches Verhältniß sie zu einander haben.

Die besondere Arbeit des Banquiers beginnt nach Ricardo, sobald er das Geld Anderer gebraucht; so lange er sich auf sein eigenes Geld beschränkt, ist er blos Capitalist. Demgemäß haben alle Banken in Lombardstreet (und Wechselhändler sind hier bloß eine Art von Banquiers) viel Geld, welches Anderen gehört, auf laufende Rechnung und in Depot. In continentaler Sprache ist Lombardstreet eine Organisation des Credits, und wir müssen sehen, ob es in ihrer Art eine gute oder schlechte Organisation ist.

Credit heißt, daß ein gewisses Vertrauen geschenkt und ein gewisser Glaube dafür gegeben wird. Ist dieser Glaube gerechtfertigt? Und ist dieses Vertrauen weise? Das sind die Hauptfragen. Um es einfacher auszudrücken, so ist Credit eine Reihe von Versprechungen, zu bezahlen. Werden diese Versprechungen gehalten werden? Nun ist beim „Banken“ (wie wir es der Kürze wegen nach englischem Muster auch zeitwörtlich brauchen wollen) die jederzeitige Fähigkeit, Verpflichtungen zu erfüllen, die Cardinaltugend, da hier Verpflichtungen oder Versprechungen zu zahlen, so groß und die Frist für diese Zahlungen, wenn’s verlangt wird, so kurz ist.

Alles, was ein Banquier seinen Gläubigern zu zahlen braucht, ist eine hinreichende Menge der gesetzlichen Tender (wie wir auch statt „Zahlungsmittel im Lande“ sagen werden), wobei es ganz gleichgültig ist, woraus dieser gesetzliche Tender bestehe. Wie viel davon hält nun die Bank von England? Gewöhnlich, aber nicht gesetzlich, ein Drittel. Und die anderen Banken? Nichts oder so viel wie Nichts.

Keine derselben hält irgend einen substantiellen Betrag über das tägliche Bedürfniß hinaus. Alle Londoner Banken verwahren ihre Hauptreserve als Depot in dem Bankdepartement der Bank von England. Das ist bei Weitem der leichteste und sicherste Platz für sie. So hat die Bank von England die Verantwortlichkeit

  1. * „Panik“, creditlose, geldgefährliche Zeit, entsteht in England meist, wenn die einzige Bankreserve des Landes in der Bank von England unter ein Drittel der Passiva, der Geldverpflichtungen, des darin deponirten und wieder verborgten Geldes sinkt oder nur zu sinken droht.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_261.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)