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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 16.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Geräuschlos schob die junge Frau den Riegel an der Thür des blauen Boudoirs weg und trat hinaus, aber bestürzt und geblendet wich sie zurück – sie hatte gemeint, in das tiefdunkle Vorzimmer zu treten, und da brannte nun die große Hängelampe am Plafond, und durch die weit zurückgeschlagenen Flügel der Hauptthür quoll das grelle Gaslicht des Säulenganges herein. … Sie setzte den Fuß nicht weiter – in athemlosem Schrecken stand sie da – von Licht überschüttet, hob sich ihr zartes, bleiches Gesicht in feenhafter Lieblichkeit aus den schwarzen Sammethüllen – aber der harte, fremde Zug, der sich vorhin um ihre Lippen geschlichen hatte, trat verschärft hervor, während die stahlfarbenen Augen, halb verwirrt, halb trotzig zurückweisend, seitwärts die Fensternische streiften, in welcher Mainau mit verschränkten Armen stand.

„Du hast mich lange warten lassen, Juliane,“ sagte er ruhig, fast eintönig, als handele es sich um eine verabredete gemeinschaftliche Fahrt ins Concert oder Theater. Dabei schritt er rasch nach der offenen Thür und schlug beide Flügel zu – es war klar, er hatte sie so weit geöffnet, um den Säulengang übersehen und so das Entweichen der jungen Frau auch vom Ankleidezimmer aus verhindern zu können.

„Du willst noch eine Promenade machen?“ – Er sagte das, vor sie hintretend, mit dem an ihm gefürchteten Sarkasmus, in seinem Blicke aber glomm ein unheimlicher Funke.

„Wie Du siehst,“ versetzte sie kalt – sie bog seitwärts aus, um unbeirrt nach der Thür zu schreiten.

„Ein wunderlicher Einfall bei dem Wetter – hörst Du, wie der Sturm heult. Er läßt Dich nicht bis an das erste Rasenrondel des Gartens kommen; darauf verlasse Dich! Die Wege schwimmen – ich warne Dich, Juliane! … Diese kleine Caprice wird Dir Schnupfen und Rheumatismus einbringen.“

„Wozu diese Komödie?“ sagte sie stehenbleibend vollkommen gelassen. „Du weißt sehr gut, daß es sich nicht um ‚eine kleine Laune‘ handelt – ich habe Dir oben gesagt, daß ich gehe, und Du siehst mich auf dem Wege.“

„Wirklich? Du willst so, wie Du da bist, im Sammetmantel und den Regenschirm in der Hand, bis – nach Rudisdorf promeniren?“

Sie lächelte schwach. „Nur bis zur Residenz – der Zug geht um zehn Uhr ab.“

„Ach so! Köstlich! Schönwerth hat die Ställe voll Pferde, und in den Remisen steht eine lange Reihe bequemer und hübscher Wagen. Aber die Frau Baronin zieht es vor, per pedes das Haus zu verlassen, weil –“

„In dem Moment, wo ich droben den Saal verließ mit dem Entschlusse, heute noch zu gehen, hörte ich auf, ein Familienglied des Hauses zu sein, und entäußerte mich selbst des Rechtes, hier noch Etwas zu verfügen –“

„Weil es“ – fuhr er unbeirrt und den Einwurf kalt belächelnd mit erhobener Stimme fort – „doch gar so herzerschütternd und todestraurig klingen würde, wenn man sich morgen früh in der Residenz erzählte: ‚Die arme, junge Frau von Mainau! Man hat sie in Schönwerth dergestalt mißhandelt, daß sie in die Nacht hinaus geflohen ist; vom rasenden Sturme gegen die Stämme des Waldes geschleudert, ist sie bewußtlos am Wege des Waldes liegen geblieben, das bleiche Duldergesicht und die prachtvollen Goldflechten von Blut überrieselt‘“ – er vertrat ihr den Weg; denn sie hatte, tief empört, mit einem Ausrufe des Unwillens eine rasche Bewegung nach der Thür gemacht.

„Bei einem so starken, gereiften Geiste, bei einer so gesunden, klaren Anschauung der Dinge eine solch unglaubliche Naivetät, Juliane!“ fuhr er fort. Der Spott war wie weggewischt aus seinen Zügen, von seiner Stimme. „Du denkst wie ein Mann und handelst urplötzlich wie ein erschrecktes Kind. Wenn es gilt, die Wahrheit zu sagen oder Anderen zu nützen, bist Du heldenhaft und hast die scharfe Schneide eines Dolches in der Zunge – aber der Selbstvertheidigung gehst Du aus dem Wege, wie der Vogel Strauß, der den Kopf versteckt. – Du fühlst Dich schuldlos und fliehst dennoch? … Weißt Du nicht, daß Du mit diesem Schritte das Urtheil der ganzen Welt gegen Dich herausforderst? – Eine Frau, die bei Nacht und Nebel das Haus ihres Mannes allein, auf Nimmerwiederkehr verläßt, ist und bleibt – eine Entlaufene! Das klingt stark und beleidigend für Dein zartes Empfinden, nicht wahr? … Allein ich kann es Dir nicht ersparen.“

Er griff nach ihrer Hand, die bereits auf dem Thürgriff lag, aber ihre Finger umklammerten ihn fest – nur mit rauher Gewalt hätte er sie herabzureißen vermocht. Ein Ausdruck erschien plötzlich auf seinem Gesichte, so eigenthümlich gespannt und dabei so wild zornig, daß sie erschrak – dennoch sagte sie gefaßt und gelassen: „Vergiß nicht, daß ich Dir vor zwei Zeugen Lebewohl gesagt und Dich von meinem Weggange unterrichtet habe – von einem ‚Entlaufen‘ oder böswilligen Verlassen Deines Hauses kann mithin nicht die Rede sein. … Und wenn die bösen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_251.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)