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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

und von denen Mancher sich zur Auswanderung dahin vorbereitet oder doch sehnsüchtige Blicke herüberschickt, dürfte diese Episode in der Temperanzbewegung um so interessanter sein, als sie ihnen eine in Deutschland ganz unmögliche Erscheinung, die dagegen in den Vereinigten Staaten vom allerentschiedensten Gewichte ist, zur Anschauung bringt.

Schon seit mehreren Jahren kamen, besonders im Gebiete der jüngeren Staaten, wo überhaupt die Zustände noch manchmal unter einer keineswegs angenehmen Urwüchsigkeit leiden, Fälle vor, daß die Frauen eines Dorfes, einer Ansiedelung oder einer Stadt sich zusammenschaarten, in Masse einen gewaltsamen Angriff auf ein ihren Männern, Söhnen oder Brüdern besonders gefährliches Schenklocal machten, und in demselben, besonders aber unter den Fässern mit Getränken durch Einschlagen arge Verwüstungen anrichteten. So sehr auch die öffentliche Stimme im Urtheile gegen Frauen respectvoll und nachsichtig ist, und in diesem Falle um so mehr, als sich jeder Besonnene sagen mußte, daß meistens arge Herausforderung vorlag, so konnte doch diese Rücksichtnahme die Tumultuanten höchstens gegen strafrechtliches Verfahren, nicht aber gegen die Entschädigungsklagen derjenigen schützen, welche durch die ungesetzlichen Handlungen derselben Verluste erlitten hatten.

Es mußte also ein Verfahren erfunden werden, das bei gleicher Wirksamkeit doch weniger mit dem Strafgesetz in Conflict kam. Herr Dio Lewis empfahl daher, daß die Frauen, in den kleineren Ortschaften beginnend, sich zu dem Zwecke vereinigen sollten, „in hellen Haufen“ eine nach der anderen der Trinkstuben einnehmen und den Eigenthümer unter allen möglichen friedlichen Argumenten, ihrem häuslichen, durch den Trunk ihrer Männer veranlaßten Unglücke entnommen, bitten und beschwören sollten, ihrem Gewerbe zu entsagen und ihre Vorräthe an Getränken in die Straße laufen zu lassen. Würde ihren Bitten nicht entsprochen, so sollten sie in dem Trinklocale selbst sofort geistliche Lieder und Gebete zur Bekehrung des Widerspenstigen anstimmen und tagelang fortsetzen, bis sie ihr Ziel erreicht hätten. Würde ihnen das Verbleiben im Schenklocale nicht gestattet, dann sollten sie ihre Gebete und Gesänge vor der Thür des Hartnäckigen, auf dem Bürgerstieg oder in der Straße, oder in Nebenhäusern fortsetzen, bis das Ziel gewonnen.

Dieser Plan ist nun bereits seit fast einem Monate in praktischer Ausführung begriffen, und, wie es scheint, mit bedeutendem Erfolge, wenigstens auf dem Lande, das heißt, in den kleineren Ortschaften und Städtchen. Die einzige größere Stadt, in welcher diese Kreuzzüglerinnen sich bis jetzt versucht haben, ist die Hauptstadt des Staates Ohio, Columbus. Die in dem Feldzugsplane der Frauen befolgte Taktik ist überall die folgende: Zunächst wird eine Massenversammlung abgehalten, in der durch geeignete Ansprachen der Widerwille der Amerikanerinnen gegen Trinken und Trunksucht bis zum erforderlichen Grade von Aufregung und Fanatismus gesteigert wird. Dann verbinden sich die Frauen zu einem Mäßigkeitsverein; sie wählen Beamte, und die Geschäftsordnung beginnt. Alsdann werden die Opfer vorgeschlagen, die man zunächst heimzusuchen gedenkt. Ein Wirthshaus wird ausgewählt, eine Deputation ernannt – und die Frauenprocession formirt sich an der Schwelle der Kirche, in der gewöhnlich die Versammlungen stattfinden. Militärisch, zwei Damen immer nebeneinander, und in langem, zuweilen gegen hundert Frauen umschließendem Zuge, zieht die Procession durch die Straßen, bis das Ziel, ein Trinklocal, erreicht ist. Die frommen Damen, deren einzige Waffe in Sanftmuth und Ueberredung besteht, erbitten Eintritt, und wird dieser verweigert, so bleiben sie vor der Thür stehen. Eine Schwester erhebt dann ihre Stimme im Gebet, das sehr viele gute Lehren und noch mehr andächtige Stoßseufzer enthält und das die schwere Schuld des Spirituosenverkäufers und sein fluchwürdiges Gewerbe drastisch behandelt. Dem Sologebete folgt eine vom gesammten Frauenchor gesungene Hymne, am häufigsten eine aus dem schwungvollen, erweckenden methodistischen Gesangbuche. Der bekannte Refrain dieser Lieder gewinnt zuweilen durch den Chorgesang der Zuschauer eine nicht immer melodische Verstärkung. Alsdann tritt eine der Wortführerinnen zu dem entweder zerknirschten oder ergrimmten Wirthe und überreicht ihm ein Document mit der Bitte, dasselbe zu unterzeichnen. Die Denkschrift enthält das Gelübde, daß der Unterfertigte sich unter Verpfändung seines Ehrenwortes verpflichtet, dem Verkaufe geistiger Getränke fortan zu entsagen und zum eigenen Heile, wie zum Wohle seiner Mitbürger ein besseres Gewerbe zu erwählen. Auch die Stammgäste des Locals werden in ähnlicher Weise ermahnt, und in oder vor dem nächsten Trinksalon beginnt ein fernerer Act des seltsamen Schauspiels.

Die Ausdauer und Opferwilligkeit der betenden Frauen umhüllt diese auch zuweilen mit einem Nimbus des Märtyrerthums, der selbstverständlich eine fanatisirende Wirkung auf die umgebenden Volksmassen ausübt. So begann das Beten auf einem Platze, wo ein verstockt sündiger Gastwirth Haus hielt, um neun Uhr Morgens und dauerte ohne Unterbrechung bis zehn Uhr Abends, und zwar während mehrerer Tage. Die Frauen waren so organisirt, daß sie sich regelmäßig in ihrem Amte, die Geister des Weins und des Spiritus zu beschwören, ablösten. An einem anderen Orte, wo den Frauen der Eintritt in’s Gastzimmer verweigert wurde, knieten sie auf den kalten Steinen vor der Thür, vom Schneesturm umweht, und beteten für das Seelenheil des Wirthes, dem Gott nicht in gleicher Weise das Thor des Erbarmens verschließen möge. In einem Städtchen Indiana’s, wo sie nirgends Einlaß erhielten, zogen sie unter Weinen und Wehklagen in die Kirche zurück, so daß kaum ein Auge, das diesen Trauerzug erblickte, trocken blieb. In einer größeren Stadt Indiana’s, Columbus, grassirte die Seuche des Betens in ganz besonders aufregender Weise. Die Frauen erhielten hier Verstärkung durch wahrhaft begeisterte Beterinnen aus der benachbarten Quäkercolonie Azalia. Ein Augenzeuge schildert die Art und Weise, in der diese Quäkerinnen beten, als ganz besonders erschütternd. Tiefer Ernst und eine zum Herzen dringende Aufrichtigkeit charakterisiren diese Gebete, in denen Schwulst und Salbung und selbst das herkömmliche Amen vermieden wird. Die Worte klingen rhythmisch und brechen plötzlich ab, so daß man, seltsam ergriffen, noch lange lauscht, wenn das Gebet bereits verklungen ist.

Bis jetzt hatte der Kampf der Frauen in den Städten keinen bedeutenden Erfolg, doch währt er noch fort, und die Temperanzler sind hoffnungsvoll. Bereits bilden sich Vereine von Männern, welche bedeutende Summen unterzeichnen, um die nachgiebigen Wirthe zu entschädigen und ihnen die Mittel zu gewähren, einen andern Erwerb zu beginnen. Unter dem Einflusse der Mütter bilden sich Kindervereine, um die Bestrebungen der Frauen zu unterstützen. Wohl kann man mit dem Endziele dieser Frauenbewegungen einverstanden sein, und doch die Mittel, deren sie sich bedienen, entschieden verwerfen. Denn es ist nicht zweifelhaft, daß sie sich herausnehmen, gegen ein vom Gesetz anerkanntes und von ihm zu schützendes Gewerbe einen moralischen Zwang auszuüben, der jede andere Classe der Bevölkerung vor den Strafrichter bringen würde. Ueberdies übertreten sie die Polizeigesetze durch Versperrung des Eingangs der von ihnen belagerten Giftfestungen, der Trottoirs und Straßen. Allein dennoch ist es wieder unmöglich, nicht mit den Frauen zu sympathisiren, namentlich in Amerika, wo „das Recht, das mit uns geboren“, nicht selten das positive Gesetz niedertritt, und wo die Verehrung und Achtung vor allen Mitgliedern des weiblichen Geschlechtes ein so tief ausgebildeter nationaler Charakterzug ist, daß die Männer sich schweigend selbst Unarten und Ueberhebungen fügen. Diese Frauen streiten für das Höchste, was ihre Seele kennt, für häuslichen Frieden, für die Gesundheit und das Lebensglück ihrer Ehegatten, Söhne und Brüder; sie thun es muthig und unerschrocken, obwohl Alles gegen sie ist. Während sie in tiefem Schnee oder Straßenschmutz, in strömendem Regen und in schneidender Kälte ausharren, und kein Wort der Bitterkeit oder Drohung über ihre Lippen kommt, ja während sie das Einschreiten des von ihnen angebeteten höchsten Wesens zum Besten ihres Gebetes in inbrünstigen, lauten Gebeten und Gesängen herabrufen, ertragen sie ruhig die ihnen zugerufenen spöttischen Bemerkungen, Verhöhnungen und selbst manchmal Beleidigungen. Aus den Trinkstuben vertrieben, knieen sie in die schmutzigen Straßen, beten für ihren Verfolger und trotzen Wind, Schnee und Regen. Ob auch ein Wirth die in seinem Locale Knieenden mit Bier überschüttet, Schnupftabak über sie ausstreuet oder sie mit dem Stecheisen angreift, was alles vorgekommen ist – keine Widerrede kommt von ihren Lippen. Das Gesetz ist gegen sie angerufen von einem oder mehreren Wirthen; der Richter erläßt einen Einhaltsbefehl –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_212.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)