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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Briefes „über den stupenden Reichthum des Inhalts, wie über die ausdauernde, gewissenhafte Richtung und die bis in’s kleinste Detail sorgliche und treffliche Ausführung“ erstaunt; er möchte es ein heiliges Zornbuch nennen; die Indignation über Goethe’s Gegner habe brennendes Feuer, nicht griechisches auf die Federspitze gelegt und gleichsam congrevische Raketen werfen lassen.

Wenn in diesem Buche Riemer bei Vergleichung Goethe’s und Schillers „aufrichtig gestand, daß er auf allen Seiten ein Uebergewicht Goethes zu finden glaube“, so war das zu weit gegangen, doch einer Aeußerung über Schiller, wie der von obigem Artikel ihm schuld gegebenen, hat er sich nicht schuldig gemacht. Es können damit nur die Bemerkungen Riemer’s über den Tell gemeint sein. Insofern ist es aber in der That Goethe gewesen, dem zuerst der Gedanke poetischer Bearbeitung der Tell-Sage kam. Von Stäfa aus, am 14. October 1797, theilte er seinem Freunde Schiller mit: „Was werden Sie nun aber sagen, wenn ich Ihnen vertraue, daß sich auch ein poetischer Stoff hervorgethan hat, der mir viel Zutrauen einflößt. Ich bin überzeugt, daß die Fabel vom Tell sich werde episch behandeln lassen, und es würde dabei, wenn es mir, wie ich vorhabe, gelingt, der sonderbare Fall eintreten, daß das Märchen durch die Poesie erst zu seiner vollkommenen Wahrheit gelangte, anstatt daß man sonst, um etwas zu leisten, die Geschichte zur Fabel machen muß. Das beschränkte, höchst bedeutende Local, worauf die Begebenheit spielt, habe ich mir wieder recht genau vergegenwärtigt, sowie ich die Charaktere, Sitten und Gebräuche der Menschen in diesen Gegenden, so gut als in der kurzen Zeit möglich, betrachtet habe, und es kommt nun auf gut Glück an, ob aus diesem Unternehmen etwas werden kann.“ Am 30. October 1797 erwiderte ihm Schiller: „Die Idee von dem Wilhelm Tell ist sehr glücklich, und genau überlegt könnten Sie, nach dem Meister und nach dem Hermann, nur einen solchen, völlig local-charakteristischen Stoff mit der gehörigen Originalität Ihres Geistes und der Frischheit der Stimmung behandeln. Aus der bedeutenden Enge des gegebenen Stoffes wird da alles geistreiche Leben hervorgehen. Es wird darin liegen, daß man durch die Macht des Poeten recht sehr beschränkt und in dieser Beschränkung innig und intensiv gerührt und beschäftigt wird. Zugleich öffnet sich aus diesem schönen Stoffe wieder ein Blick in eine gewisse Weite des Menschengeschlechtes, wie zwischen hohen Bergen eine Durchsicht in freie Fernen sich aufthut.“ Im Jahre 1798 war Goethe die nähere Motivirung der ersten Gesänge des Tell gelungen, doch zur Vollendung kam sein episches Gedicht nicht, während Schiller hingegen denselben Stoff auffaßte und zu seinem unsterblichen dramatischen Meisterwerke verarbeitete, in dessen wunderbar naturtreuen Schilderungen von Land und Volk, wie sie eben nur nach eigner Anschauung des Vierwaldstättersees möglich (Schiller hat die Schweizer Alpen nie gesehen), die Mittheilungen oder Winke des Freundes Goethe sich leicht erkennen lassen.

Den geistigen Einfluß Schiller’s auf Goethe hat Riemer nicht geleugnet und dabei offen bekannt, als moralisch günstiger Einfluß sei anzuschlagen die gemüthliche Theilnahme Schiller’s an Allem, was Goethe interessirte, also an allen Natur- und Kunststudien, die Förderung seiner Zwecke durch williges Entgegenkommen, wohlmeinenden Rath, treulichen Beistand, einsichtigen Beifall, nebst liebevoller, nicht schulmeisterlicher Ermunterung von Seiten eines selbst reich und eigens begabten Kunstgenossen, da sein Gemüth nur durch freies Wohlwollen aufgeschlossen und durch wahre Theilnahme zur Hingebung angeregt sein wollte; dieses Alles sei allerdings als ein besonderes Glück anzusehen, um so mehr, als Goethe einen solchen Antheil nicht von seinen übrigen älteren Freunden, weder von Herder noch von Knebel, hoffen und erwarten konnte.

Wenn Riemer hiernach den im oben citirten Artikel ihm gemachten Vorwurf nicht verdient hat, so hat er und sein Grab dagegen neben andern Ruhestätten des Weimarischen Friedhofs eine Würdigung verdient, welche jener Artikel ihm versagt hat. Er war es, der dem großen Dichter, seinem Leben und Wirken drei Decennien hindurch nahe gestanden, der bei fast allen literarischen Arbeiten desselben seit 1803 mitgewirkt, der im Auftrage Goethe’s dessen so bedeutsamen und hochwichtigen Briefwechsel mit Zelter herausgegeben, der an der letzten Ausgabe von Goethe’s Werken thätigsten Anteil genommen hat. Er war es, der durch seine „Mittheilungen über Goethe“, aus seiner eigenen Kenntniß und Erinnerung und aus ungedruckten, Andern unzugänglichen Quellen der Goethe-Literatur die interessantesten Aufschlüsse, die reichen thatsächlichen Materialien geliefert hat, nach denen ein vollständiges und treues Lebensbild unseres Dichters erst möglich geworden. Er war es endlich, der noch kurz vor seinem am 19. December 1845 erfolgten Tode jene wichtigen „Briefe von und an Goethe“ druckfertig ordnete, welche im Jahre 1846 erschienen.

Im Leben vielfach angefeindet, nannte er den Trost, daß die Zeit auch ihm Gerechtigkeit werde widerfahren lassen, einen niederträchtigen Trost, denn unterdeß habe man doch gelitten und ausgestanden, gewöhnlich sei es dann erst, wenn man selbst nicht mehr sei: er machte in seinem Vorworte zu den „Mittheilungen“ die bezeichnende Bemerkung: „Das Provociren auf die Nachwelt gewährt keinen Trost. Die Nachwelt urtheilt nicht besser als die Mitwelt. Die jetzt Lebenden sind ja auch die Nachwelt einer Vorwelt, und nun frage sich ein Jeder, wie er sich gegen diese verhalte, wie viel, oder vielmehr wie wenig er von ihr weiß, wie richtig oder wie falsch er von ihr urtheilt? Und so wird es ihm bei der Nachwelt auch ergehen. Lebe nur Jeder so fort, wie er kann, um das Gerede der Mit- und Nachwelt gleich unbekümmert; er wird es keiner zu Recht und zu Dank machen.“ Aber er irrte: die Nachwelt feiert den von ihm verehrten Goethe in seiner unsterblichen Größe; sie hat auch die hohen Verdienste Riemer’s um die alte und neue Literatur anerkannt, sie wird dieselben noch höher schätzen müssen, wenn erst seine geheimen Aufzeichnungen der Oeffentlichkeit übergeben sein werden. Die von ihm genau geführten Tagebücher aus den Jahren 1807 bis 1845, welche bis vor wenigen Jahren auf der Bibliothek in Weimar versiegelt deponirt waren, sind mit seinen reichhaltigen Collectaneen und Manuscripten in meinen Besitz zu Bearbeitung und Edition übergegangen. Während Eckermann’s berühmte „Gespräche mit Goethe“ nur den letzten Jahren von dessen Leben, 1823 bis 1832, entstammen, bieten jene Aufzeichnungen über ein dreißigjähriges Zusammenleben mit Goethe das lebhafteste und treueste Bild von dem Leben und Wirken des großen Dichters seit dem Jahre 1807 und von dem Verhältnisse Riemer’s zu ihm im interessantesten Detail.

Liebreiches, ehrenvolles Andenken ist nach Goethe’s wahrem Ausspruche Alles, was wir den Todten zu geben vermögen; – möge es auch seinem Freunde und Vertrauten Riemer erhalten bleiben!

Robert Keil.




Blätter und Blüthen.


Ein „Berliner Straßenbild“ ohne Bild. Unter den Linden in Berlin bewegte sich in buntem Durcheinander die feine Welt. Glänzende Toiletten und vergnügte Gesichter, elegante, elastische Erscheinungen und Jugend und Reichthum, alles flog in schnellem Wechsel an mir vorüber, ein Bild des Glückes und des Frohsinns, der Lebensfülle und des Ueberflusses, und über dem Ganzen lag der Sonnenschein eines heiteren Frühlingstages. Ohne es zu wollen, gerieth ich in den Strom der Spaziergänger hinein, und langsam und willenlos ließ ich mich von ihm treiben, ein Fröhlicher unter den Fröhlichen. Um so schärfer war der Contrast, als plötzlich an einem Seitenwege hinter einer starken Rüster hervor ein todtenbleiches Weib auf mich zutrat, ein kleines Mädchen auf dem Arm, ein etwas größeres an der Hand, und mit zitternder Stimme sagte: „Erbarmen, Herr! eine kranke Frau, eine unglückliche Mutter, die kein Brod für ihre Kinder hat!“ – Es durchzuckte schmerzlich mein Herz; ich sah, daß es kein gewöhnliches Bettelweib war, das zu mir sprach; ich fühlte, daß ich es nicht mit einem auswendig gelernten Spruch zu thun hatte. Es war ein Nothschrei, den der Augenblick der Armen erpreßte. Sie war noch nicht an der äußersten Grenze des Elends angekommen; eine ärmliche Sauberkeit war noch an ihr bemerkbar. Aber sie war krank; das Fieber schüttelte sie sichtbar, und auch das kleinere Mädchen schmiegte sich fröstelnd an ihre mit einem dünnen Tuch bedeckte Schulter. Sie war für einen Augenblick heftig erröthet, als sie ihre Bitte nicht langsam stotternd, sondern schnell wie einen halb unterdrückten Schrei herausgestoßen hatte. Sie bettelte noch nicht lange, das leuchtete aus Allem hervor, und so griff ich schnell entschlossen in meine Tasche und holte ein größeres Geldstück hervor, das ungefähr den Umständen entsprechen und sie ein paar Tage vor der äußersten Noth schützen mochte. Wie leuchteten ihre Augen, als ich es ihr in die kalte, magere Hand legte, – ihre bleichen Lippen zitterten ein paar Worte des Dankes hervor.

Da ertönte plötzlich eine barsche Stimme hinter uns, bei welcher wir

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