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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

mir bei den häufigen Wanderungen über das Moor, die den Zweck hatten, das Leben und Treiben der zahlreichen Sumpf- und Wasservögel zu beobachten, bereits früher entdeckt worden war.

Den brütenden Kranich beunruhigten die Angriffe der Krähen auf das Aeußerste. Jedesmal bei dem Nahen eines Feindes erhob er sich blitzschnell, um mit kräftigen Schnabelstößen den Zudringlichen zu verscheuchen; immer aber entzog sich dieser den gefährlichen Hieben durch eilige Flucht. Da plötzlich wurde die ganze Krähenschaar mobil. Mit überlautem Krächzen näherte sie sich mehr und mehr dem belagerten Orte und besetzte auch die letzten der ganz nahe an der Fläche befindlichen Kampen. Jetzt, nicht mehr fliegend, sondern halb hüpfend, halb laufend, eröffneten die Muthigsten der großen Gesellschaft sogleich einen neuen heftigen Angriffskampf, bis endlich die eine der Krähen ihren Platz auf der Fläche selbst einnahm und gerade in dem Augenblicke, als von anderer Seite her der Kranich hart bedrängt wurde, sich mit Hast auf das Nest stürzte. Doch die Strafe ereilte die Habgierige. Der Kranich wandte sich um, und ehe ihr Zeit blieb, dem wüthenden Gegner zu entfliehen, trug sie einen so kräftigen Hieb mit dem scharfen, spitzen Schnabel davon, daß sie rücklings in das Wasser taumelte.

Immer heftiger entbrannte der Kampf. Der Kranich stand hochaufgerichtet inmitten des Nestes. Die Flügel schüttelnd und ein scharfes Zischen ausstoßend, wendete er die stets bereite Waffe, den von den Feinden mit vollem Recht gefürchteten Schnabel, den Krähen mit einer Schnelle entgegen, daß es diesen nicht möglich ward, auch nur den geringsten Vortheil zu gewinnen. Und wieder erhob sich die ganze Schaar. In heftiger Erregung schossen die Krähen immer und immer von Neuem auf das Nest herab, bis der Kranich, in die höchste Wuth versetzt, mit weit geöffnetem Schnabel pfauchend und zischend eine Krähe weit über die nächsten Kampen hinaus verfolgte. – Ein Siegesgekrächze ertönte. Mit Gier stürzte das Raubgesindel dem Neste zu und nach einem Augenblick des heißesten Ringens trugen einige Glückliche die Eier als Preis davon. Der erbitterte Kampf wurde nun in der Luft noch einige Zeit hindurch fortgesetzt, indem die eine Krähe der andern die leckere Speise zu entreißen suchte, bis endlich, immer noch lärmend und kämpfend, die ganze Schaar meinen Blicken entschwand. Etwas später fand ich eine bedeutende Strecke vom Neste entfernt im weichen Grase eine noch ganz frische, also eben geraubte Eierschale. Nur das stumpfe Ende derselben zeigte eine kleine, runde Oeffnung; auch nicht die geringste Verletzung war außerdem bemerkbar. Die Krähe hatte den ganzen Inhalt durch dieses eine Loch heraus gesogen. Auf welche Weise aber die Räuberin des wahrlich nicht kleinen Eies dieses hatte an sich reißen, trotz harter Bedrängniß festhalten und bis hierher schaffen können, ist mir immer ein Räthsel geblieben.

Ich wandte den Blick wieder dem Neste zu. Der Kranich stand trauernd am Rande desselben. Prüfend steckte er den Schnabel in die Mitte des Nestes, und so oft er sich überzeugt, daß keines der tapfer, wenn auch in Folge des überhand nehmenden Wuthausbruches ungeschickt vertheidigten Eier mehr darin sei, warf er den langen Hals gerade nach oben und stieß einen lauten, kläglich klingenden Schrei aus. Da ertönte ein Rauschen in der Lust. Pfeilschnell kam der zweite Kranich daher geflogen. Wie sein Gefährte setzte auch er sich auf den Rand des Nestes, dasselbe ebenfalls auf das Genaueste untersuchend. Dann stellten beide mit gesenkten Flügeln und eingezogenem Halse sich einander gegenüber, bis sie sich endlich nach längerer Zeit lautlos erhoben und der brausenden See entgegenflogen.

Fr. W. Paul.




Ein finsterer Winkel im deutschen Reiche.


Im Jahre 1836 war in Eisleben und Umgegend der „Hallische Courier“ von Schwetschke fast die einzige politische Zeitung, und die Schöngeister der Luther-Stadt nährten sich damals nur von den belletristischen Journalen „Karlsruher Unterhaltungsblatt“, „Abendzeitung“, „Planeten“, „Der Freimüthige“, „Weißenseer Unterhaltungsblatt“ u. a. m. Als nun der „Hallische Courier“ in jenem Jahre die Erzählung von der Hexenprobe zu Ceynowa brachte, waren wir Eisleber in unserem friedlich stillen Thale erstarrt ob solchen Mittelalters; am meisten aber erstarrte ich, als am andern Morgen der Professor R. die Zeitungsnummer mit in die Secunda brachte, den betreffenden Artikel vorlas und dann mich, einen notorisch schlechten Lateiner, aufforderte, diese Geschichte lateinisch wiederzugeben. Der Schmerz ist zwar längst verwunden; aber als ich 1867 in amtlicher Stellung in die Nähe des Ortes kam, wo die Tragödie gespielt hatte, da lebte jene Stunde wieder in mir auf, wo ich auf der Schulbank ähnliche Angst ausgestanden hatte, wie die Frau in den Fluthen des baltischen Meeres.

Doch bevor ich den Hergang jener Hexenprobe erzähle, erlaube mir der geneigte Leser, ihm die Oertlichkeit zu beschreiben; denn es möchte bei dem Namen „Ceynowa“ Manchem so gehen wie mir, der ich mich damals auf den Landkarten halb todt nach ihm gesucht habe.

An der Grenzscheide zwischen Pommern und Westpreußen läuft von Norden nach Süden eine zwölf Stunden lange und fünf Fuß über dem Meeresspiegel erhabene Landzunge, Hela genannt, in die Ostsee. Man hat sie als Halbinsel bezeichnet, obschon sie stellenweise kaum tausend Schritte breit ist, so daß bei großen Stürmen die Wasser der Ostsee über das Land wandern, um auf der andern Seite den Schwestern im Putziger Wieck einen nachbarlichen Besuch abzustatten; die größte Breite hat die keulenförmige Halbinsel an ihrem Ende bei dem Dorfe, von dem sie den Namen empfangen hat; hier ist sie nämlich dreitausend Schritte breit. Ob, wie die Gelehrten sich streiten, die Landzunge gleich mit der Erde erschaffen ist, oder ob Hela anfangs eine Insel war und sich nur im Laufe der Zeit durch Anspülung zu einer Halbinsel verschlechtert hat, das kümmert uns hier nicht; die Halbinsel Hela ist im Selten, Cannabich und Roon angeführt, also ist sie für uns und unser Thema da.

Man kann allerdings die Landzunge zu Wagen bereisen, aber zum Vergnügen hat es noch kein Sterblicher gethan; denn es ist eine Reise mit vielen Hindernissen, und man könnte an den Anfang der Halbinsel Hela (welches Wort von Hel, Hölle, herkommt) ebenso gut eine Warnungstafel hinstellen, wie Dante sie über seine „Hölle“ gestellt hat: „Wer hier eintritt, lasse die Hoffnung zurück!“ Ja, ich möchte noch hinzufügen: und nehme sich Essen und Trinken mit! denn die Reise geht nur durch arme Fischerdörfer, als Großendorf, Ceynowa, Kußfeldt, Heisternest und Hela. Hier aber hört das Weiterreisen auf und das Meer ruft uns zu:

„Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo,
Rückwärts, rückwärts, edler Cid!“

Die Einwohner der genannten Dörfer sind alle kassubisch-slavischen Stammes, das heißt polnisch und katholisch, mit Ausnahme des Fischerstädtchens Hela mit seinen vierhundert Einwohnern, die alle deutschen Geblütes und evangelischer Confession sind und sich in Bezug auf Aufklärung, Frömmigkeit und Reinlichkeit vortheilhaft von den katholischen Collegen unterscheiden.

Sonst muß man der Halbinsel eine gesunde Luft nachrühmen, und Meer und Wald, Wind und Sand, Abgeschlossenheit von den Genüssen der Welt und Hunger, das mögen wohl die Factoren sein, welche die Halbinsel zu einem klimatischen Curorte machen könnten; denn man bleibt hier gesund ohne Arzt, wird krank ohne Arzt und stirbt auch endlich ohne Hülfe des Arztes.

So viel zur Orientirung.

Am 7. Juli 1836 war in Ceynowa der Bock herumgegangen, d. h. der Schulze hatte ein fetischartiges Stückchen Holz zu seinem Nachbar geschickt; der gab es wieder dem Nachbar, und so ging es durch’s ganze Dorf, bis es der Letzte an den Schulze zurückgab; dadurch waren die Ceynowaer Hausväter für den Nachmittag zu einer Versammlung im Schulzenhause geladen; dorthin zogen sie denn durch den tiefen, mahlenden Sand der Dorfstraße, die sich an die Dünen des sogenannten großen Strandes lehnte, wo auf einer mit Strandhafer, Salzkraut und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_192.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)