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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Meine Frau konnte das Bett nicht verlassen. Sie hatte das Fieber. Ich wußte mir nicht zu helfen und zu rathen. Unsere Wohnung, schon sonst eng genug und nun um das größere Zimmer vermindert, wo die Leiche lag, ward unerträglich. Wir waren nahe daran zu ersticken. Und was sollte ich mit dem Leichnam anfangen? Ich durfte mich nicht aus dem Hause wagen, da ich die Meinigen nicht allein lassen wollte und außerdem das Auge beständig auf dem armen Cretin haben mußte. Ich war der Verzweiflung nahe. Endlich kamen gegen zehn Uhr Morgens vier Versailler, um den todten Cameraden abzuholen. Unter denselben befand sich der mit der Schramme. Zwei von ihnen nahmen den Leichnam auf ihre Schultern; die zwei anderen folgten mit ihren Gewehren. Kaum aber waren ihre Schritte auf der Treppe verhallt, als ich einen Lärm vor meiner Hausthür vernahm. Ich hatte die Fenster geöffnet und sah ein Weib in der Uniform der Nationalgarde. Sie hatte sich in einem der benachbarten Höfe versteckt und sollte nun erschossen werden. Es war eine schlanke Gestalt von stolzer Haltung; doch sah sie schrecklich aus. Ihr Gesicht war von Pulver geschwärzt und ihre bestaubte Uniform hing in Fetzen. Drei Mann mit gestreckten Gewehren begleiteten sie auf dem Gange, von dem sie niemals zurückkehren sollte. Sie war just vor meinem Hause angelangt, als man den Leichnam aus demselben trug, und wurde sogleich von dem Soldaten mit der Narbe erkannt.

‚Schießt sie nieder! Schießt sie auf der Stelle nieder, die Megäre!‘ rief er wüthend. ‚Ich erkenne sie. Sie hat dem Armand Meunier die Kugel in den Kopf gejagt.‘

Die Gefangene hatte sich bis jetzt ruhig und unbeweglich gehalten; als aber der Soldat den Namen des Getödteten nannte, stieß sie einen solchen Schrei aus, daß es Allen durch Mark und Bein fuhr. Sie wollte sich auf die Leiche stürzen. Man stieß sie mit den Kolben hinweg.

‚Es ist mein Bruder, mein armer Bruder Armand,‘ rief sie, ‚und ich, ich habe ihn getödtet!‘

Sie warf in ihrer Verzweiflung das Käppi vom Kopfe und zerraufte sich das Haar, das ihr nun aufgelöst über die Achseln fiel. ‚Brudermörderin! Furie! Ungeheuer!‘ schrie es durcheinander, und ein Soldat hob den Kolben in die Höhe, um ihr den Schädel zu zerschmettern. Seine Cameraden hielten ihn davon ab.

Die Einen gingen nun mit der Leiche nach dem Boulevard Richard Lenoir; die Andern führten, oder richtiger, schleppten das Weib nach der Rue Keller.

Bald tönten von dort her einige Schüsse. Das Drama war zu Ende.

Ich sagte meiner Frau nichts von dieser schrecklichen Scene, die kaum so lange gedauert, als ich sie Ihnen erzähle. Erst einige Tage später hat sie dieselbe von einigen Nachbarinnen erfahren.

Ich hatte nun, da mir Niemand an die Hand ging, den Fußboden von den Blutflecken zu säubern, und verbrachte einen Theil des Tages mit dieser gräßlichen Beschäftigung. Als ich Nachmittags auf die Straße ging, um ein Brod zu holen, sah ich, daß die Leichen noch nicht gänzlich fortgeschafft waren. Sie trugen eben einen todten Jungen herbei, den einzigen Sohn unserer Gemüsehändlerin. Er war gestern mit einem Gewehre singend durch die Straßen gegangen und hatte der Nachbarschaft gesagt, daß er sich gegen die Versailler schlagen würde, wie ein Mann. Er schlug sich und fiel auf einer Barrikade in der Rue Servan am Roquetteplatze. Er war noch nicht sechszehn Jahre alt. Das war ein Sonntag, den ich niemals vergessen werde. Es war für mich der schrecklichste jener Schreckenstage, und ein Schauder und ein Grauen erfaßt mich, so oft ich an denselben zurück denke.“ –

„Und was ist aus dem schwachsinnigen Knaben geworden?“ fragte ich.

„Wir behielten ihn noch eine Woche lang nach dem Ende des Kampfes,“ sagte mein Freund, „und erwarteten mit nicht geringer Sehnsucht die Arbeiterin; denn wir wußten nicht, was wir mit ihm anfangen sollten. An die Polizeibehörde uns zu wenden, schien uns nicht rathsam, da wir fürchteten, dadurch dessen Familie und vielleicht auch uns einem gefährlichen Verdacht auszusetzen, jedenfalls aber widerwärtige Untersuchungen zu veranlassen. Endlich traf die Arbeiterin ein. Sie sagte uns im Vertrauen, daß der Vater des Knaben noch lebe, sich aber versteckt halte und gewiß erschossen würde, wenn man ihn entdeckte. Sie nahm den Knaben zu sich und ernährt nicht nur ihn, sondern auch dessen Vater. Wer dieser Mann ist und wo er sich verbirgt, wissen wir nicht und wollen es auch nicht wissen.“




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Eine deutsche Malerherberge im Sabinergebirge.


Wenn der Frühling seinen Einzug in Italien hält und mit so freigebigen Händen seine Gaben über die Erde streut, daß er schließlich, wenn er schon den deutschen Gauen sich nähert, gleichsam sein halbentleertes Füllhorn gewahrend nur lässige Spenden mehr verabreicht; wenn seinen Spuren folgend schon die ersten Züge der Wandervögel ihren Flug nach dem Norden zu nehmen beginnen – dann ziehen in umgekehrter Richtung Reisende aus allen Ländern der ewigen Stadt zu, die schönste Zeit des Jahres am interessantesten Orte der Welt zu verbringen.

Aber den nach längerem Aufenthalte in Rom heimisch gewordenen Fremden zieht es bald unwiderstehlich hinaus in die Berge, welche rings, die weitgedehnte Fläche der Campagna säumend, in wunderbarem Glanze vor seinen Augen liegen.

Schwer ist es dann, eine Wahl zu treffen. Unter dem Einflusse des Frühlings verlieren die classischen Citate, welchen die Menschheit meist nachläuft, viel von ihrer Anziehungskraft, und der Reisende wird mehr und mehr geneigt, sich lediglich durch landschaftliche Rücksichten bestimmen zu lassen, ohne daß jedoch dadurch seiner Verlegenheit schon ganz abgeholfen wäre. Bei Unschlüssigkeiten dieser Art thut man wohl immer am besten, sich vom Instincte der Maler leiten zu lassen. Sie sind es von jeher gewesen, die als die ersten Pioniere in solche Gegenden drangen, welche später, zur Berühmtheit gelangt, das Ziel von zahllosen Fremdenzügen wurden. Ich erinnere beispielsweise nur an die von August Kopisch wiederentdeckte blaue Grotte auf der Insel Capri.

So beschließen wir denn diesmal, nach dem Sabinergebirge zu wandern. Oft, wenn wir Abends auf der via Appia, der alten Gräberstraße Roms, am Grabmal der Cäcilia Metella vorüber, in die Campagna hinausgingen, sahen wir im Osten den langen Zug dieser Berge, in welchen einst die Herniker und Aequer hausten, und die vollen Strahlen der untergehenden Sonne malten auf die kahlen grauen Wände die glühendsten Farben, die sich erst allmählich in jenes gesättigte Violett verwandelten, wie es der Campagna von Rom eigen ist. Freilich zweifelt man beim Anblick dieser kahlen Bergreihen, daß ihre einsamen Thäler besondere landschaftliche Schönheiten enthalten können, und es bedarf bei Manchem wiederholter gegenseitiger Versicherung von Seite der Maler, um ihn zu einem Ausfluge nach dieser Richtung zu bewegen.

Es giebt keine Gegend in der Nähe von Rom, ja vielleicht in ganz Italien, welche ein so charakteristisches Gepräge zeigt, wie das gebirgige Sabinerland. In den Contouren dieser Berge und den mannigfachen Bildern dieser Felsenlandschaften trägt die Natur an sich schon das Gepräge des Kolossalen, ja oft des Schrecklichen; aber dieser Eindruck wird noch in hohem Grade gesteigert durch die besondere Lage der Städte und Ortschaften, welche fast ausschließlich oben auf den Bergen, oft in schwindelnder Höhe liegen. Hier wirkt eine düstere Gebirgsnatur nicht als solche allein, sondern in harmonischer Verbindung mit den Zeugen einer meist ebenso düsteren Geschichte, welche diese Berge sahen. Das graue Gemäuer der hohen schmalen Häuser, welche, wie verschüchtert zusammengedrängt, hoch in de Lüften um die Ruinen ehemaliger Castelle liegen, die überragende Stellung dieser Castelle, welche trotzig den Feind zu erwarten scheinen – das Alles, Grau in Grau gemalt, so daß man oft die Orte nicht von den Felsen zu unterscheiden vermag, die sie umgeben, giebt der Landschaft einen ganz fremdartigen Charakter, und es genügt hier ein bloßer Ueberblick, uns im Allgemeinen mit ihrer Geschichte bekannt zu machen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_165.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)