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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

das uns angesichts einer furchtbaren, an einem Haar schwebenden Gefahr schüttelt. Inmitten der Veranda des indische Hauses, unmittelbar auf der schimmernden Palmriedmatte, hatten die Kinder das Schießpulver zu einem kleinen Haufen zusammengeschüttet, ihn in der Mitte vertieft und das Lichtstümpfchen hineingesteckt – da brannte das dünne Stengelchen lichterloh – die leiseste Erschütterung, ein starkes Ausathmen konnte es umwerfen, oder einen Funken vom Docht lösen. Die Pulvermenge hätte allerdings nicht genügt, um, wie es gewünscht wurde, „das Hexenhaus“ in die Luft zu sprengen; die Gefahr lag in der grenzenlosen Harmlosigkeit der Kinder, die sich selbst ganz und gar nicht in die Mitleidenschaft bei der Sache zu denken vermochten – sie hockten aneinander gedrängt um die sogenannte „Mine“, und die Gesichter darüber neigend, warteten sie athemlos auf den interessanten Moment, wo die Flamme soweit niedergekrochen sei, um an dem Pulver zu lecken.

Leo kauerte zwischen den beiden Prinzen und konnte zuerst die Herbeieilenden sehen. „Still, Papa – wir sprengen die Hexe in die Luft!“ rief er halb flüsternd und die Augen kaum bewegend hinüber.

Mit einem Sprunge stand Mainau vor der Veranda, und ohne die leicht zu erschütternden Stufen zu betreten, reckte er sich weit hinüber und zerdrückte die kleine Flamme in seiner Hand. Als er das Gesicht zurückwandte, war es fahl wie das eines Gespenstes; die Herzogin aber sank unter einem hysterischen Aufschluchzen in die Arme der Hofdame. Sie erholte sich jedoch augenblicklich wieder.

„Die Prinzen gehen heute ohne Abendbrod zu Bette, und dürfen morgen zur Strafe nicht ausreiten, Herr Werther!“ befahl sie hart und streng, während Mainau seinen Knaben an den Schultern hielt und ihn unter heftigem Schelten derb schüttelte.

Liane trat hinzu und legte beide Arme um das aufweinende Kind. „Willst Du ihn wirklich für die Sünden seiner vorigen Erzieherin züchtigen, Mainau?“ fragte sie mit sanftem Ernst. „Ich meine, Du darfst das so wenig, wie man das Volk für derartige Grausamkeiten verantwortlich machen kann, sobald es in seinen finsteren Wahnvorstellungen systematisch erhalten und bestärkt wird.“ – Sie strich mit bebender Hand zärtlich über die wunderschönen Kinderaugen, die nur der entschlossene Griff der väterlichen Hand vor dem furchtbaren Geschick der Erblindung behütet hatte.

Das Gesicht der Herzogin nahm plötzlich jene todtenhafte Wachsweiße an, die Liane schon bei ihrer ersten Begegnung im Walde erschreckt hatte – die fürstliche Frau vergaß, daß der Erzieher ihrer Kinder, die Hofdame, er selbst, dem so leicht das gefürchtete, triumphirende Spottlächeln auf die Lippen trat, um sie her standen; sie sah nur, wie das junge liebliche Weib den Knaben an das Herz drückte, und das war sein Kind, sein Ebenbild, an welches diese gelassene junge Frau so ruhig und selbstverständlich ihre Mutterrechte geltend machte – das war nicht zu ertragen! – Die mühsam niedergehaltene Eifersucht fiel sie an wie ein plötzlich eintretender Wahnsinn. Soweit vermochte sie sich aber doch zu beherrschen, daß sie der Verhaßten nicht sofort mit höchsteigenen Händen den Knaben wegriß, wenn sie auch völlig aus der Rolle der gnädig und huldvoll gesinnten Herrscherin fiel.

„Verzeihen Sie, meine Liebe! Ihre Anschauungen sind so seltsamer Art, daß sie mir zu meinem alten, lieben Schönwerth zu passen scheinen, als wolle man die Tricolore auf die ehrwürdigen Thürme dort pflanzen,“ sagte sie schneidend und zeigte nach dem Schlosse. „Ich kann mir nicht helfen, und Sie mögen mir deshalb auch nicht gram sein, aber mir ist immer, als hörte ich irgend eine Gouvernante, irgend eine simple Schulze oder Müller, ihre wunderlichen Ansichten entwickeln – gilt Ihnen das Vorrecht, den glänzenden Namen Mainau zu tragen, so wenig –“

„Hoheit, bis vor wenigen Wochen war ich die Gräfin Trachenberg,“ unterbrach sie die junge Frau, mit stolzer Ruhe ihren alten, hocharistokratische Familiennamen betonend. „Wir sind verarmt, und auf den letzten Trägern des Namens liegt der Makel der Selbstverschuldung – aber der Stolz auf die Heldenthaten und das fleckenlose Verhalten einer langen Ahnenreihe ist trotzalledem mein Erbtheil; ich weiß gewiß, daß ich es nicht schädige, wenn ich menschlich fühle und denke, und deshalb können auch die Mainau’s unbesorgt sein.“

Die Herzogin klemmte zornig die Unterlippe zwischen ihre feinen, spitzen Perlenzähnchen, und an der wogenden Bewegung der Rockfalbeln sah man, daß ihre kleinen Füße den Kies ungeduldig bearbeitete – die Hofdame und der Prinzenerzieher bemerkten erbebend dieses Zeichen ausgesprochenster allerhöchster Ungnade.

Mainau hatte sich, so lange Liane sprach, abgewendet, als wolle er gehen; jetzt sah er über die Schulter zurück. „Hoheit, ich bin unschuldig,“ versicherte er, beide Hände spöttisch betheuernd auf das Herz legend. „Ich kann wirklich nicht dafür, daß Sie im lieben, alten Schönwerth eine solche Antwort hören müssen – ich glaubte selbst an schlichten Taubensinn. Diese Dame mit dem sanften Lavallière-Gesichtchen hat nicht allein den berühmten Namen, sondern auch das Schwert ihrer heldenhaften Vorfahren geerbt – es sitzt ihr in der Zungenspitze – ich weiß ein Lied davon zu singen.“ Er zuckte unter höhnischem Auflachen die Achseln.

Diese kleine, scharf zugespitzte Scene, bei der jedes Wort der eben zerdrückten Lichtflamme inmitten des Schießpulvers glich, wurde unausgesetzt von dem leisen Weinen der kleinen Prinzen begleitet – der heldenmüthige Erbprinz wollte sein geliebtes Carottengericht auf dem Abendtisch nicht einbüßen, und sein Bruder weinte um den Pony, den er morgen nicht sehen durfte. Herrn Werther’s eifrig geflüstertes Zureden verfing nicht, und als er sie, ohnehin geängstigt durch das sichtbare Zürnen der Herzogin, rasch hinwegführen wollte, da brach das moderirte Klageduett in ein lautes Aufschreien aus.

Fast zugleich hörte man den Fahrstuhl des Hofmarschalls eiligst heranrollen. Mit angstbleichem Gesicht kam der alte Herr näher; als er aber die gesammte Gesellschaft heil und unversehrt erblickte, befahl er dem Jägerburschen, der ihn fuhr, zu halten – er wollte offenbar den nächsten Umkreis des indischen Hauses meiden. Mit ihm kamen auch der Hofprediger und Frau Löhn, Beide in sichtlicher Aufregung, die wohl das Weinen der Kinder erhöht hatte.

„Um Gotteswillen, Raoul, was gehen hier für unerhörte Dinge vor?“ rief der alte Herr. „Ist es wahr, wie die Löhn sagt, daß die Kinder mit Schießpulver gespielt haben?“

„Ein Spiel mit tieferem Sinn, Onkel – die Lotosblume sollte schließlich doch noch in die Gefahr kommen, als Hexe zu sterben: die Kinder haben sie in die Luft sprengen wollen,“ antwortete Mainau mit halbem Lächeln.

„Wär’s nur vor sechszehn Jahren geschehen!“ stieß der Hofmarschall mehr murmelnd heraus, wobei sein Blick scheu das Bambusdach streifte. „Aber nun frage ich, wie kommt das Pulver in die Hände der Kinder? … Wer hat es Ihnen gegeben, mein Prinz?“ wandte er sich an den consequent heulenden Erbprinzen.

„Der Mann da!“ sagte er und zeigte nach dem Jägerburschen, der unbeweglich, in dienstlicher Haltung, hinter dem Fahrstuhl stand. Der kleine Feigling hatte nicht den Muth, für seine That verantwortlich zu sein; er wälzte sie auf die Schultern eines Anderen.

„Aber das ist ja gar nicht wahr!“ rief Leo aufgebracht – seine unbestechliche Wahrheitsliebe und Geradheit empörten sich gegen diese Lüge. „Dammer hat uns das Pulver nicht gegeben; er wollte es ja gar nicht leiden – er war nur schrecklich grob und wollte mich zu Boden schlagen, und dabei hat er uns ‚Brut‘ geschimpft und hat gesagt, für uns Alle wär’ es besser, wenn ein Schwefelfaden unter uns angesteckt würde.“

„Hund!“ fuhr der Hofmarschall wüthend nach dem Jägerburschen herum – er schnellte empor, sank aber ächzend vor Schmerz wieder zurück. „Da siehst Du nun, Raoul, wohin Deine Humanitätsanwandlungen führen! Man ernährt diese Tagediebe und schützt sie mit unerschöpflicher Güte vor dem Hungertode; wenn man aber nicht stündlich mit der Hetzpeitsche hinter ihnen steht, da werden sie frech, stehlen, wo sie können, und schließlich ist man nicht einmal seines Lebens vor ihnen sicher.“

„Beweisen Sie mir einen einzigen Diebstahl, gnädiger Herr!“ rief der Jäger mit auflodernder Heftigkeit – der Mann war schrecklich anzusehen mit seinen rollenden Augen und der dunklen Zorngluth, die seine Wangen bedeckte. „Ein Tagedieb wär’ ich? Ich arbeite redlich –“

„Ruhig, Dammer – entfernen Sie sich!“ gebot Mainau und zeigte nach dem Jägerhause.

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