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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Nadeln oder zur breiteren sechsseitigen Platte verkürzt – und daß diese Theile sich stets unter Winkeln von sechszig, respective einhundertzwanzig Graden zu regelmäßigen sechs- (seltener drei-) theiligen Sternfiguren vereinigen, aber der Grund dieser Mannigfaltigkeiten ist noch von Niemandem ergründet worden. In der Regel sind die sechs Strahlen des Sternes beiderseits mit unter sechszig Graden angesetzten Seitenkrystallen verziert, aber in der Zahl und den Abständen und Verbindungen derselben herrscht die größte Abwechselung, da dem Grundgesetze genügt ist, wenn die Bildung der sechs Strahlen untereinander gleich ausfällt. Bald stehen die Seitenkrystalle in dichter Folge, und der Stern scheint aus sechs Federn zusammengesetzt, bald sind sie von kürzeren Fiedern unterbrochen und jeder Theil gleicht einem gezähnten Blatte, dann stehen sie wieder in größeren Abständen oder einzeln, verbinden und kreuzen sich endlich mit den entsprechenden Fiederchen des Nachbarstrahls. Sehr häufig ist auch ein kleinerer Stern wie eine erhabene Arbeit auf einen größeren aufgelegt, so daß die Mittelrippen im Relief hervortreten. Es giebt in der Natur nicht zum zweiten Male, und weder in der Pflanzen- noch in der Thierwelt eine so erschöpfende Variation einer einfachen Grundform, die so viel Eleganz mit so viel gesetzmäßiger Starrheit verbände. Scoresby, der berühmte Walfischfänger, hat sechsundneunzig Stück durchweg verschiedene und in sich vollendete Gestalten, eine immer schöner als die andere, abgebildet, und andere Beobachter haben mindestens noch ein zweites Hundert hinzufügt.

Kein anorganischer Stoff, dessen Krystallformen beobachtet sind, hat einen annähernden Formenreichthum aufzuweisen wie das Wasser, wenn die Kälte der in ihm schlummernden Gestaltungskraft zu Hülfe kommt und – ich möchte sagen – seine Gedanken festhält. Wer die Schneeflocke aufmerksam betrachtet, wird sich bald der Anschauung zuneigen, daß die anorganischen Körper doch nicht so ganz jener Zusammenwirkung innerer Kräfte ermangeln, die wir bei Pflanzen und Thieren als Seele bezeichnen, das heißt als jene unbekannte Kraft, welche das Entstehen, Gestalten, Wachsen und Sein des Individuums bedingt und mit ihm vergeht. Vergleicht man die Schneesterne gemeinschaftlicher Bildung, so findet man, daß sie alle einer und derselben oder einigen wenigen nahestehenden Formen angehören, während die des nächsten Tages vielleicht ganz und gar abweichend gebaut sind. Daraus läßt sich schließen, daß jede dieser Gestalten der genaue Ausdruck eines besonderen Mischungsverhältnisses von Feuchtigkeit, Bewegung, Druck, Temperatur, Belichtung, elektrischer Spannung und chemischer Mischung der Luft sein mag, das bei ihrer Bildung vorhanden war. Es ginge hier also umgekehrt zu, wie im Menschenleben nach astrologischen Ansichten: hier sollen die Sterne die Verhältnisse regeln, dort regeln die Verhältnisse den Stern. Wer weiß, ob die Schneeflocken für den durchdringenden Blick des Naturforschers nicht dereinst die Zeichenschrift werden, aus welcher er die Vorgänge und Zustände der höhern Luftregionen entziffert?

Ueber den vermuthlichen Bildungsvorgang des Schnees sind die Naturforscher nichts weniger als einig. So viel ist gewiß, daß der Schnee niemals, wie man mitunter liest, gefrorener Regen sein kann – den umgekehrten Fall beobachtet man im Gebirge häufig – sondern direct wie Reif und Rauhfrost aus dem Wasserdampfe der Luft abgeschieden wird, darin verschieden von Graupeln und Hagel, die zum Theil wenigstens aus gefrierendem Wasser geballt werden. In nordischen Ländern bemerkt man nicht selten, daß in Räumen, die mit sehr feuchter Luft gefüllt sind, z. B. in Ballsälen oder Viehställen, ein wirbelnder Schneefall entsteht, wenn die eiskalte Luft von draußen plötzlich Gelegenheit findet, stürmisch einzudringen.

In neuerer Zeit hat man Maschinen gebaut, welche künstliche Kälte für fabrikmäßigen Betrieb dadurch erzeugen, daß die Luft in ihnen auf engen Raum zusammengepreßt und, nachdem sie ihrer bei der Verdichtung freiwerdenden Wärme durch Wasserkühlung beraubt, wieder ausgedehnt wird. Wenn diese verdichtete Luft viel Feuchtigkeit enthält, so entsteht bei ihrer mit starker Wärmebindung verbundenen Ausdehnung eine dichte weiße Wasserdampfwolke, und wenn die Ausdehnung recht plötzlich geschieht, ein Schneeschauer. Wahrscheinlich wird man das künftig benutzen, um für die Bretter, die die Welt bedeuten, künstliche Schneegestöber zu erzeugen; indessen bei solchen improvisirten Schneefällen im Zimmer können sich keine regelmäßigen Schneerosetten bilden, dazu gehört gleichsam Bedacht und Ueberlegung. Der Vorgang ist vermuthlich ein zusammengesetzter und hat mehrere Bildungsstufen.

In sehr hohen und kalten Luftschichten nimmt der Wasserdampf im Sommer wie im Winter nicht selten die Form mikroskopischer sechsseitiger Säulchen und Plättchen an, die aber so staubklein sind, daß sie, unterstützt von ihrer Durchsichtigkeit, mit bloßem Auge gar nicht wahrgenommen werden können. Auf ihre Gegenwart zu gewissen Zeiten aber haben die Physiker seit vielen Jahren aus einigen optischen Erscheinungen – den großen Höfen um Sonne und Mond, Nebensonnen – mit eben der Sicherheit geschlossen, mit welcher wir bei Erscheinung eines Regenbogens schließen, daß sich, wo er erscheint, Wassertropfen in der Luft befinden. Arago hat sich daraus die öfter beobachtete Thatsache erklärt, daß es zuweilen einige Minuten bei völlig klarem Himmel regnen kann, wenn nämlich solche Krystallchen in Masse niedersinken und schmelzen. In nordischen Breiten bildet sich ein solcher unsichtbarer oder fast unsichtbarer Staubschnee auch in niedern Schichten der kalten und trockenen Atmosphäre, und macht, durch alle Ritzen der Kleider und Wohnungen dringend, den Aufenthalt sehr unbehaglich. Der spätere Präsident der Berliner Akademie Maupertuis, welcher im Jahre 1736 im nördlichen Lappland Gradmessungen anstellte, hat von den Belästigungen dieses unentfliehbaren Staubschnees Schilderungen hinterlassen, bei denen Einem das Herz im Leibe friert, wenn auch Einiges davon auf Rechnung des frostigen, zu Uebertreibungen geneigten Franzosen zu setzen sein mag. In unseren Breiten haben die französischen Luftschiffer Barral und Bixio bei ihrer Auffahrt am 27. Juli 1850 zum ersten Male eine solche Eisnadel-Wolke angetroffen und durchschifft. Sie bestand unten aus Wasserdampf, der unter den Gefrierpunkt abgekühlt war, ohne zu erstarren, und erst bei achtzehntausend Fuß Höhe, bei einer Temperatur von zehn Grad in Eisnadeln überging, die sie nicht sahen, aber die auf ihren Wangen ein sehr schneidendes Gefühl hervorbrachten. Wenn auf eine solche Eisnadelwolke ein feuchterer Luftstrom einfällt, so wird ein ähnlicher Vorgang in hoher Luft stattfinden, wie bei der Rauhfrostbildung auf der Erde. Der Wasserdampf wird sich in strahlig krystallinischer Form auf den Eisplättchen abscheiden, wenn die Einwirkung eine allmähliche ist.

Man kann sich durch ein zierliches Experiment ein Bild des Vorganges machen, wenn man gleiche Gewichtstheile Bittersalz, Wasser und Gummischleim mit geringem Glycerinzusatz warm auflösen läßt und mit einem Haarpinsel davon im warmen Zimmer auf weißes Papier streicht, als wenn man dasselbe dick lackiren wollte. Wirft man nun sogleich einige ganz kleine, vereinzelte Sandkörnchen auf die bestrichene Fläche, oder berührt sie hier und da mit einer Nadelspitze, so werden diese Eindrücke die Mittelpunkte einer aus vielen hundert Strahlen sonnenartig gebildeten Krystallisation, die immer weiter wächst, bis sich die einzelnen Rosetten begrenzen. So bereitetes Krystallpapier, welches bei Anwendung des giftigen Bleizuckers statt des Bittersalzes besondere Schönheit erlangt, kam bekanntlich vor einigen Jahren als Material für Visitenkarten vielfach in den Handel. Seine Darstellung lehrt uns, daß feste Körperchen in einer krystallisirenden Flüssigkeit leicht sternförmige Abscheidungen bewirken, allein das sechsseitige Plättchen des Staubschnees, welches wir zuweilen gewachsen im Centrum des Schneesternes erkennen können, wirkt entschiedener bestimmend auf den Ansatz des Wassers ein. Seine sechs Ecken oder Kanten wirken wie eben so viele Magnetpole, wie ein Grundriß, nach dem der fernere Bau auszuführen ist. In seinen Strahlungsachsen vergrößert sich das Gebilde allmählich und verliert, schwerer werdend, die Fähigkeit zu schweben, indem es, immer noch wachsend, herabsinkt. Wenn die Lufttemperatur in den untern Schichten ebenfalls niedrig ist, so gelangt das Sternchen unversehrt bis auf unsere Mütze, ist sie aber daselbst höher, so ballen die einzelnen Sternchen aus Gründen, die uns der nächste Aufsatz darlegen wird, zusammen.

Daß diese Erklärung wahrscheinlich die richtige ist, können wir daraus schließen, daß jene durch schwebende Eisnadeln hervorgebrachten optischen Erscheinungen bei starker Winterkälte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_152.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)