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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

sich nun aber nicht selten auch bei ganz gesundem Herzen, wie z. B. bei der Blutarmuth. Würde nun der Arzt diese Geräusche nicht richtig zu beurtheilen verstehen, so könnte er bei Verwechselung der Blutarmuth mit einem Herzfehler dem Kranken durch eine falsche (diätetische wie arzneiliche) Behandlung großen Schaden zufügen. – Beim Beklopfen des Brustkastens über den Lungenspitzen wird, wenn diese nicht ganz gesund sind, ein dumpfer Ton gehört, der aber aus ganz verschiedenartigen Zuständen des Lungengewebes entstehen und bei verschiedenartiger Fülle des Tones bestehen kann. Einen ungeübten Arzt könnte diese Dämpfung veranlassen, Lungenschwindsucht mit Lungenerweiterung zu verwechseln und eine ganz falsche Behandlung einzuschlagen. – Hieraus wird der denkende Leser entnehmen können, wie durchaus nöthig bei einer Krankheit eine genaue Untersuchung von Seiten eines in der Diagnostik erfahrenen Arztes ist und wie die Behandlung eines Kranken ohne eine solche Untersuchung, wohl gar nur brieflich, geradezu an’s Verbrecherische grenzt, da das Leben des Kranken dabei gefährdet sein kann. Wenn z. B. dem Arzte ein Kranker schreibt, daß er an Blutandrang nach dem Kopfe leide und von Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindel, Ohrensausen, Krämpfen heimgesucht werde, so könnte ein Heilkünstler, der den Kranken nicht sieht und nicht weiß, daß diese Krankheitserscheinungen auch der Blutarmuth im Gehirne zukommen, den Kranken sehr schlimm zurichten, wie dies übrigens bei der Kaltwasserwirthschaft gar nicht selten der Fall ist.

Also nur wenn der Arzt den Verlauf kennt, welchen die Naturheilungsprocesse bei den verschiedenen Krankheiten zur Heilung einschlagen, wird er im Stande sein diese in richtiger Weise zu unterstützen. Bei dieser Krankheit verlangt nun aber der dieser Krankheit eigenthümliche Naturheilungsproceß seine ganz bestimmte Behandlung, und diese, wenn überhaupt eine solche erforderlich ist, braucht in den allermeisten Fällen nur eine diätetische, keine arzneiliche zu sein. Als oberstes Gesetz hierbei gilt: Der kranke Theil verlangt die äußerste Schonung und der kranke Körper neben milder Nahrung stets auch reine, mäßig warme Luft. Eine diätetische Behandlung zieht nun aber die verschiedenartigsten naturgemäßen Hülfsmittel in Gebrauch, wie: die Nahrung (mehr vegetabilische oder animalische, eiweiß- oder fettreiche etc.), die einzuathmende Luft (warme, kalte, trockene oder feuchte), Kälte oder Wärme (innerlich oder äußerlich angewendet, örtlich oder allgemein), Wasser (als kaltes oder warmes, als Getränk oder Bad), Ruhe und Bewegung (active oder passive). – Als Beweis diene: Bei der Lungenentzündung wird ein Stück des lufthaltigen Lungengewebes durch Austritt festwerdenden Stoffes (gerinnenden Faserstoffs) aus den mit Blut überfüllten Haargefäßchen luftleer (was nur mit Hülfe des Beklopfens und Behorchens der Lunge zu erkennen ist) und nur dann wieder gesund, d. h. zur Luftaufnahme wieder geschickt, wenn diese feste Masse durch den Naturheilungsproceß entfernt wird. Dies kommt aber dadurch zu Stande, daß diese feste Masse zuvörderst durch Zerweichen in eine dicke Flüssigkeit (den eiterigen sogenannten kritischen Auswurf bildend) verwandelt und sodann durch Aufsaugung und Aushusten entfernt wird. Würde hierbei der Arzt den Kranken zu warme und zu feuchte Luft einathmen lassen, dann zerflösse das Feste zu schnell und zerstörte durch Vereiterung das Lungengewebe. Würde im Gegentheil zu trockene und zu kalte Luft geathmet, dann wurde, das Zerfließen des Festen erschwert oder ganz verhindert und es bliebe das entzündete Lungenstück lange Zeit oder auch zeitlebens hart und zum Athmen untauglich.

Aus dem bis jetzt Gesagten wird der Leser hoffentlich ersehen haben, wie und warum Krankheiten ohne Anwendung von Arzneimitteln, nämlich durch den Naturheilungsproceß, heilen können, wie ferner bei Anwendung von falschen Arzneistoffen durch Störung des Naturheilprocesses die Krankheit gefährlicher verlaufen kann. Es wird ihm sodann wohl auch klar geworden sein, daß das Erkennen einer Krankheit keine Aufgabe für einen Curirlaien ist, selbst dann nicht, wenn derselbe sich einige halbverstandene medicinische Weisheit aus Büchern geholt hat, und daß die diätetische Behandlung von Krankheiten durchaus eine genaue Kenntniß nicht nur der Naturheilungsprocesse, sondern auch der Wirksamkeit der sogenannten diätetischen oder physiologischen Heilmittel erfordert. In welche Lebensgefahr demnach ein Kranker gerathen kann, der sich der Behandlung eines sich Naturarzt nennenden, unwissenden Laien unterwirft, oder der sich mit Geheimmitteln und ohne Untersuchung aus der Ferne brieflich curiren läßt, sollte von Verstandes wegen jedem nur halbwegs Gebildeten offenbar werden.

Fragt man, wie es kommt, daß eine Menge sonst ganz verständiger Leute bei ihrem Kranksein sich Raths bei Personen erholen, von denen sie doch mit Sicherheit wissen könnten, daß dieselben jedes wissenschaftlichen Urtheils entbehren und meist die verschiedenartigsten Krankheiten ganz nach derselben Schablone behandeln; daß sie Geheimmittel anwenden, aus deren plumper reclamenhafter Empfehlung sie schon merken könnten, daß der Verfertiger, meist ein in der Heilkunst ganz Unkundiger, auf Geldprellerei ausgeht; daß sie populär-medicinischen Schriften Vertrauen schenken, welche alle Krankheiten schnell und sicher zu beseitigen versprechen, und daß sie auf diese Weise den jetzigen blödsinnigen Heilunfug und verächtlichen Geheimmittelschwindel unterstützen: so läßt sich dies nur dadurch erklären, daß diese Personen sahen, wie bei den aufgezählten Mißbräuchen in der Heilkunst doch Krankheiten verschwinden. Nach der gegebenen Erklärung der Krankheitsheilung durch den Naturheilproceß dürfte nun aber wohl nachgewiesen sein, welchen unwesentlichen Antheil die erwähnten sogenannten Heilmittel an der Genesung des Kranken besitzen und wie man im Gegentheil berechtigt ist zu sagen, daß der Kranke nicht durch, sondern trotz derselben gesund geworden sei. Uebrigens ist es dem Naturheilungsprocesse auch zuzuschreiben, daß die Homöopathen ihren Nichtsen Heilkraft zuschreiben, und daß die Allopathen eine Unmasse von nichtsnutzigen Arzneistoffen besitzen, welche unter dem Namen „obsolete“ in die Rumpelkammer der Apotheke zurückgesetzt sind, ein Schicksal, welches den allermeisten unserer jetzigen Arzneistoffe in nicht zu langer Zeit ebenfalls bevorsteht.

Nun noch einige Worte über die „Curirfreiheit“ oder richtiger gesagt über die heutzutage florirende „Curirfrechheit“. Jedenfalls ist es die Aufgabe der Civilisation, den Menschen so frei wie nur möglich von jeder Art von Bevormundung und Einschränkung zu machen und ihm zur allergrößten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu verhelfen. Dann muß aber auch der Mensch durch richtige Erziehung befähigt werden, von der Freiheit den richtigen Gebrauch machen zu können. Eine solche Erziehung läßt sich aber bei den in verkehrten Ansichten und Autoritätsglauben Aufgewachsenen nicht mehr mit Erfolg anwenden; sie muß schon in der ersten Jugend durch passenden, den Fortschritten der Wissenschaft und Moral entsprechenden Unterricht und mit einer verständigen Anleitung und Angewöhnung zur wahren Sittlichkeit beginnen. – Will man jedem Hans und Kunz zu curiren und mit giftigen Stoffen zu handeln erlauben, dann lasse man den Menschen aber auch in der Schule schon den nöthigen Unterricht in der Natur- und Gesundheitslehre geben, damit sie sich vor den oft äußerst gefährlichen Eingriffen jener Geheimmittelschwindler und Curirlaien zu schützen im Stande sind. Jedenfalls müßte, wie bei der Preßfreiheit gegen den Mißbrauch derselben ein Preßgesetz, so auch bei der Curirfreiheit ein Gesetz bestehen, nach welchem, wie in Amerika, Jeder, welcher sich mit Heilungen von Krankheiten abgiebt und dabei seinem kranken Mitmenschen offenbaren Schaden an seinem Leben und seiner Gesundheit zufügt, entschieden bestraft wird. Oder ist es nicht geradezu ein offenbarer Mord, wenn, was übrigens gar nicht so selten vorkommt, bei einem eingeklemmten Bruchschaden der ärztliche Berather ohne Untersuchung des Kranken und ohne Versuche, den Schaden zurückzubringen (was oft in wenigen Minuten Heilung veranlassen kann), innere Mittel oder irgend welchen Heilfirlefanz anwendet?

Um es kurz zu sagen: verständiger und urtheilsfähiger, besser und humaner, ja auch gesünder wird die Menschheit nur dann erst werden, wenn die richtige, auf Wissen und nicht auf Glauben gegründete Erziehung derselben nicht erst beim Erwachsenen, sondern schon beim Kinde, und zwar vom ersten Augenblicke seines Lebens an, durch besser gebildete Mütter, welche denken gelernt haben, eingeschlagen wird. Man bedenke doch nur, daß das seines Bewußtseins noch nicht mächtige Kind sehr leicht durch das Gesetz der Gewöhnung und Nachahmung, ebenso zum Bösen wie zum Guten, zum gedankenlosen blinden Glauben, wie zum Denken, ebenso zur Erbsünde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_146.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)