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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

wie das „Leben Jesu“ von Strauß, hervorgebracht. Die vier starken Auflagen desselben von 1835 bis 1839, die spätere für die größern Massen unternommene Bearbeitung für das deutsche Volk und die Hunderte von Gegenschriften und Vertheidigungen, welche seitdem erschienen sind, beweisen hinlänglich, daß Strauß durch seine Beleuchtung der Grundlagen des Christenthums die Gebildeten wie das Volk aus der bewegungs- und prüfungslosen Glaubensseligkeit aufgerüttelt hat.

Der freisinnige Geschichtschreiber der neuesten Theologie (Schwarz) behauptet, daß mit dem Jahre 1835, in welchem das „Leben Jesu“ von Strauß zuerst erschienen war, die Geschichte der neuesten Theologie, der neuesten theologischen Entwickelung beginne. Allein diese


David Friedrich Strauß.


Anschauung ist eine zu einseitig theologische. Das Leben Jesu von Strauß bezeichnet eine neue Epoche nicht nur in der Theologie, sondern in unserer religiösen Erkenntniß überhaupt, einen Wendepunkt in unserer gesammten religiösen Cultur. Wie alle wahrhaft schöpferischen und reformirenden Gedanken wirkt es umstürzend und grundlegend zugleich, führt es eine Krise und einen neuen schöpferischen Boden herbei. Seine Zerstörung vieler Illusionen, seine Vernichtung aller Halbheiten, seine erschütternde Gewalt gegen alles gläubig hingenommene Unklare, seine kritische Zersetzung des urkundlichen christlichen Glaubens, alles Dies rief die Krise herbei und bezeichnet die verneinend wirkende Kraft. Allein der schöpferisch belebende Gedanke, die geschichtliche Seite des Christenthums zur Erkenntniß zu bringen, das religiöse Gemüthsleben mit seiner äußerlichen Weltanschauung, mit seiner Trennung von Gott und Welt und dem phantastischen Wunderglauben in geschichtliches Wissen umzusetzen, das ist seine positive, volksthümlich aufbauende Macht. Nach beiden Seiten hin hat Strauß umwälzend gewirkt.

Auf dem Gebiete der christlichen Erkenntniß giebt es wie in der Wissenschaft, in der Philosophie und in der Politik tief einschneidende Revolutionen, welche Schlußpunkte einer vorangegangenen und Anfangspunkte einer neuen Epoche bilden, alten Gährstoff in sich aufnehmen und neue Grundlagen entwickeln. Für unsere socialen Zustände und für unser politisches Staatsleben war eine solche Revolution im Jahre 1848; für unsern Glauben des Christenthums datirt die neue Aera von 1835, dem Erscheinen des Lebens Jesu von Strauß. Wenn jedoch unsere politische Revolution weniger schnell das Bewußtsein des deutschen Volkes durchdrungen hat, aus Gründen des politischen Unvermögens und wegen der deutschen Zerrissenheit zunächst unfruchtbar geblieben war, obgleich die Wirkungen selbst unter den nachfolgenden reactionären Gegenschlägen niemals wieder erloschen – so wirkte die durch Strauß hervorgerufene Revolution durch ein ganzes Menschenalter lebendig fort, hat jetzt selbst innerhalb der Kirche ihre kräftigen Blüthen getrieben und die Anschauung vom Christenthum mit der Gewalt des Geistes verbessert.

Die doppelte epochemachende Bewegung des Strauß’schen Werkes, die umstürzende und erzeugende Einwirkung, wurde durch geschichtliche Zustände der damaligen Zeit und die wissenschaftlichen Vorarbeiten hervorgerufen. Der Zustand der damaligen Theologie und die kirchliche Gährung im deutschen Volke, die Vorarbeiten aus der damals bereits ausgelebten Richtung von Hegel und das „Leben Jesu“ von Schleiermacher, verbunden mit der allgemein sich regenden Abneigung gegen Illusionen, gegen die Verirrungen der philosophischen Speculationen, dies Alles zusammen ermöglichte das umbildende Auftreten von Strauß und machte sein „Leben Jesu“ zu einer historischen Nothwendigkeit. Eine politische Revolution wird zur geschichtlichen Nothwendigkeit, wenn sie die zerstreut in der vorangegangenen Zeit liegenden Fortschrittsideen zusammenfaßt und zur Grundlage der Zukunft macht, und dasselbe ist mit einem epochemachenden Werke auf kirchlichem Gebiete der Fall. Das „Leben Jesu“ von Strauß ist die reife Frucht der Vorarbeiten; die Vergangenheit hat daran mitgearbeitet und wurde darin zum Abschlusse gebracht. Aber im Abschlusse wurde sie vervollständigt, zugespitzt und auf einen Grundgedanken zurückgeführt, und der Grundgedanke wurde sodann zum Boden für eine künftige Erkenntniß des Christenthums. In den Forschungen von Strauß laufen alle kritischen Gedanken des neunzehnten Jahrhunderts über Jesum zusammen; die Masse des einzeln Erforschten tritt hier zum Schrecken der Halben in geschlossener Reihe auf, verbunden mit einer Meisterschaft der Form, mit einer ästhetischen Vollendung und mit einer seltenen Herrschaft über den Stoff. „Das ‚Leben Jesu‘ steht da,“ sagt Schwarz, „mit der harten Gleichgültigkeit des Schicksals. Die Schlußrechnung in der Kritik der evangelischen Geschichte ist gezogen, und die Inventur lautet auf Bankerott.“

Strauß hat zu seinem Werke außer den vereinzelten Kritiken der theologischen Vorgänger noch vorzüglich die philosophischen Forschungen von Hegel und Schleiermacher verwendet. Im Jahre 1831 war er Repetent am theologischen Stifte in Tübingen, und als solcher ging er nach Berlin, um Schleiermacher’s Vorlesungen über das Leben Jesu zu hören. Die Vorlesungen dieses Denkers, mit seiner zersetzenden Zweifelsucht und dem combinirenden Scharfsinne, regten Strauß zu seinem „Leben Jesu“ an. Schleiermacher hatte aber bekanntlich noch immer eine theologische Scheu, mit dem alten Kirchenglauben und mit seinem Amte ganz zu brechen; er wollte das Ueberlieferte durch Vergeistigung weiterbilden, alte Bausteine zum Neubaue verwenden, ohne zu bedenken, daß er dadurch seinem Standpunkte untreu geworden, daß er sein System selbst durchbrochen. Durch solche theologische

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_143.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)