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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

der Hofprediger streng und hart – er war plötzlich der allmächtige Beichtvater, der diese hochgeborene Seele unter der Faust hielt. „Lassen wir das Alles einstweilen dahingestellt sein und begnügen wir uns mit der Ueberzeugung, daß Frau von Mainau mit ihrem Ausspruch das Hereinragen einer übersinnlichen Welt in die Wirklichkeit sicher nicht leugnen will.“

Er wollte ihr abermals zu Hülfe kommen – sie brauchte einfach billigend das Haupt zu neigen, und der Kampf war beendet; aber damit mußte sie lügen und reichte dem Priester in der That die Fingerspitzen – zum zweiten Male wies sie heute seine rettende Hand zurück.

„Dieses Hineinragen einer übersinnlichen Welt in die Wirklichkeit leugne ich allerdings,“ sagte sie um etwas bebender Stimme – die neben ihr sitzende Hofdame rückte geräuschvoll von ihr weg. „Ich glaube nicht an die Wunder und himmlischen Visionen, wie sie die Kirche lehrt. Wollte der Allmächtige uns Boten aus dieser übersinnlichen Welt schicken, dann müßten sie auch ihre Spuren tragen – so aber haben die guten Engel ein schönes und das böse Princip ein verzerrtes, abstoßendes, aber immer menschliches Antlitz – die Flügel, die den Seraph herabtragen, und das häßliche Kennzeichen ‚des Bösen‘ sind der Thierwelt entlehnt, Himmel und Hölle erscheinen ausgeschmückt mit den Elementen, die unseren Erdball beleben und halten – wir können eben mit unseren Vorstellungen nicht über ihn hinaus, und nur in der originellen Auffassung alles Dessen, was uns umgiebt, sei es in Tönen, Bildern oder Worten, waltet unsere Phantasie.“

Ein secundenlanges tiefes, unheimliches Schweigen folgte auf die letzten Worte – die schöne Herzogin saß wie versteinert da, nur ihre Augen glitten in verzehrender Unruhe, fast angstvoll, zwischen Mainau und seiner jungen Frau hin und her. Er hatte vorhin klar genug ausgesprochen, daß ihn solch ein selbstständiges, mit kaltem Verstand forschendes weibliches Wesen anwidere – aber das dort war ja keine geharnischte Pallas Athene, sondern die lieblichste Mädchenerscheinung, die mit Herzklopfen und unter abwechselndem Erröthen und Blaßwerden der Macht der Ueberzeugung nachgab und sie in melodisch sanften Tönen aussprach. Seinen Gesichtsausdruck konnte die Fürstin nicht sehen, er hatte sich halb abgewendet – seine Haltung aber zeigte so vollständig die geringschätzende Ruhe und Blasirtheit, in die er sich meist hüllte, daß man hätte meinen mögen, er werde unter gleichgültigem Achselzucken auf jede Anrede spöttisch sagen: „Lasset sie doch reden – was geht’s mich an?“

„Sie stehen dem Standpunkte des strenggläubigen Christen so fern, gnädige Frau, daß ich auf eine Polemik hier an Ort und Stelle nicht eingehe, so gewiß ich auch des siegreichen Ausgangs auf meiner Seite bin, unterbrach der Hofprediger mit seiner tiefen, schönen, etwas verschleierten Stimme die momentane Stille – er mußte ihr antworten, sie hatte ihn dazu gezwungen. „Ich will Ihnen aber gewissermaßen Concessionen machen, indem ich den biblischen Standpunkt verlasse und Sie an einen der größten Dichter erinnere, der seinen grübelnden Helden sagen läßt: ‚Es giebt mehr Dinge zwischen Erd’ und Himmel, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt.‘“

„Wohl wahr – doch ich verstehe darunter das geheimnißvolle Walten der Naturkräfte. Die meisten unserer Mitlebenden betrachten noch immer die Natur als etwas Selbstverständliches, über das sie nicht nachzudenken brauchen, weil sie es ja sehen, hören und begreifen können – daß aber eben dieses Sehen, Hören und Begreifen das Wunder ist, fällt ihnen nicht ein. Und nun dichtet man dem weisen Schöpfer willkürliche Eingriffe in seine ewigen Gesetze an, oft nur um winziger menschlicher Interessen willen, ja, die Kirche geht noch weiter – sie läßt untergeordnete Geister dieses vollendete Gewebe zerstörend durchbrechen, lediglich, um irgend ein Hirtenmädchen oder sonst eine einsame Seele von Gottes Dasein zu überzeugen, und nennt das ‚Wunder‘. Wie kläglich und theatralisch aufgeputzt erscheinen sie neben Gottes wirklichem Schaffen und Walten – ein ganzer Wolkenhimmel voll Engelsköpfe versinkt neben der treibenden Wunderkraft, die einen kleinen, bunten Blumenkelch aus der Erde steigen läßt. … Es ist wohl wahr, ‚Gott läßt sich nicht spotten‘ – er läßt sich nicht spotten in dem, was Eins ist mit ihm, in der Natur, und wie streng er unser Festhalten an ihr fordert, beweist er, indem er sie als Selbsträcherin auftreten läßt, wenn wir uns an ihr versündigen.“

Der Hofprediger sah ihr mit demselben Ausdrucke in das Gesicht, mit welchem er heute schon einmal angstvoll und flehend ihr zugerufen hatte: „Sie wüthen gegen sich selbst, gnädige Frau!“

„Und vergessen Sie ganz den Begründer Ihrer Kirche – Luther, der dem bösen, Gott gegenüber wirkenden Principe selbst einen Thron, eine Macht auf Erden eingeräumt hat, wie es zuvor nie besessen?“ sagte er wie beschwörend.

„Er würde in unserem Jahrhunderte nicht allein das Tintenfaß, sondern auch seine gewaltige Feder gegen diese Ausgeburt der menschlichen Phantasie richten –“

„Genug, genug!“ rief der Hofmarschall empört und streckte der jungen Frau Schweigen gebietend die Hand entgegen. „Hoheit, verzeihen Sie, daß Sie an meinem Tische dergleichen irreligiöse Auslassungen ertragen mußten,“ wandte er sich mit unheimlicher Ruhe zu der Herzogin. „Frau von Mainau hat die verlassene Stille im Rudisdorfer Schlosse ausgenutzt und Studien gemacht, die durch ihre Nüchternheit auf ihren Ursprung zurückführen – Studien bei Wasser und Brod.“

Die Herzogin erhob sich rasch – sie mußte; als Fürstin und Frau durfte sie nicht gestatten, daß es in ihrer Gegenwart zu einem ausgesprochenen Familienzerwürfnisse komme. „Gehen wir nun hinüber, Obst zu pflücken!“ sagte sie mit so heiterer Liebenswürdigkeit, als sei nichts vorgefallen. Sie setzte ihr Hütchen vorsichtig auf die Locken und ergriff ihren Sonnenschirm. „Wo mögen die Prinzen stecken? Ich höre und sehe nichts von ihnen, Herr Werther,“ sagte sie zu dem Prinzenerzieher, der sofort davon stob. … Den Hofprediger an ihre linke Seite winkend, legte sie ihre Hand auf den dargebotenen Arm Mainau’s – er führte sie, ohne noch einen Blick auf seine Frau zu werfen, nach den Plantagen – die Hofdame folgte schleunigst, und so stand Liane plötzlich, wie eine Geächtete, allein unter den Ahornbäumen.

„Fühlen Sie nichts, meine Gnädigste? – Sie haben heute das Genick gebrochen,“ sagte der Hofmarschall malitiös, während er langsam an ihr vorübergefahren wurde.


(Fortsetzung folgt.)




Einer von den „Ganzen“.


Nicht umsonst hat ein Gefühl tiefer Wehmuth aller Denkenden und Gebildeten Deutschlands bei der aus Ludwigsburg gekommenen Trauerkunde sich bemächtigt, daß David Friedrich Strauß dem schweren mit der Geduld des Weisen ertragenen Krankheitsleiden erlegen ist, das ihn seit ungefähr Jahresfrist ergriffen hatte. Der Verlust, der unserer deutschen Wissenschaft, unserer Literatur und unserem nationalen Leben durch den Heimgang dieses lichtspendenden Denkers, dieses großen Kämpfers und „Rufers im Streit“ bereitet wurde, ist ein unersetzlicher und es ziemt sich wohl, einen Rückblick auf den gewaltigen Umschwung im Reiche der Gedankenwelt zu werfen, der mit dem ersten plötzlichen Auftreten des nunmehr verstorbenen Apostels der freien Forschung begonnen hat.

Seit länger als einem Menschenalter (1835) war Strauß in Bezug auf die Erkenntniß des Christenthums der Lehrer der Gebildeten, wie das Aergerniß der kirchlichen Reaction und der Orthodoxie, und im Jahre 1863 wurde er auch der Schöpfer einer geschichtlichen Auffassung des Christenthums für’s allgemeine deutsche Volk. Weil er ein „Ganzer“ war und unvermittelt das Ergebniß seiner Forschung verkündete, hat er die Bedeutung eines Reformators und Vorkämpfers gewonnen, verehrt von Tausenden, die sich zum Kampfe gegen die Halben ihm angeschlossen, und gehaßt von Tausenden, welche durch ihn aus ihrer Gefühlsseligkeit aufgeschreckt wurden. Seit den „Wolfenbüttler Fragmenten“ und den theologischen Streitschriften Lessing’s hat kein Werk über Bibel und Christenthum eine Aufregung,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_142.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2018)