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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

der Heustädel ragen, und des Aufstieges zu dem fünftausendzweihundertsechsundzwanzig Fuß hohen Schrofenpasse werden die Leser um so weniger vermissen, als heut zu Tage kühne Gipfelstürmer ohnehin mit zahlreichen Schilderungen von Berg- und Gletscherfahrten die Menschheit beglücken; doch kann das Geständniß nicht unterdrückt werden, daß, wenn nicht Sepp mit seiner Bärenkraft über zahlreiche wilde Schneewehen und höchst fatale Stellen hinweggeholfen hätte, die Schlußhälfte dieses Aufsatzes buchstäblich im Schnee stecken geblieben wäre. Nach vielen Mühen rückten endlich die gewaltigen Wände des Biberkopfes näher, nach und nach verschwanden auch die höchst gelegenen Zeugen alpiner Baumvegetation, und nur hier und da ragten noch einzelne Wettertannen aus dem Schnee hervor. Diese gewähren einen eigenthümlichen Anblick durch die hohen Schneewälle, welche sich am Stamme anlehnen und diesen so wie die unteren Aeste gleichsam vor den rauhen Winterstürmen schützen. Die aus dem Schnee hervorragende obere Hälfte ist bis an die äußersten Spitzen der Tannennadeln mit schimmernden Schneekrystallen behangen, die im Sonnenscheine die prachtvollsten Lichteffecte und Farbenspiele zeigen. Wem fällt beim Anblicke einer solchen silberweißen, halb im Schnee vergrabenen, wetterfesten Tanne nicht der Vers Heine’s ein:

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh!
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Der Anblick der Berge im Winter von solchen Höhen ist ein unvergleichlicher. Mit ungemein klaren Contouren ragen die majestätischen Felsgipfel in die Luft und werfen tiefblaue Schatten in die verschneiten Schluchten und Thäler. Ringsum glitzern und funkeln auf dem Schnee Millionen von Sternen, die bei jedem Schritte mit wechselndem Lichtgefunkel aufleuchten. Ueber den Rand der Felshänge, die im Herbste vom Rosenschein der untergehenden Sonne erglühen und an denen sonst die purpurne Alpenrose leuchtet, ragen weit hinaus hartgefrorne Schneewände, in denen Wind und Sonne die bizarrsten Figuren geformt haben. Von der Paßhöhe fällt der Blick auf die mächtigen Berge des obersten Lechgebietes. Der kleine Kirchthurm von Warth ragt mit den wenigen Häusern des Dörfchens aus der mit hohem Schnee bedeckten jenseitigen Bergterrasse unmerklich hervor, und tief zu Füßen des Beschauers bezeichnen emporsteigende bläuliche Rauchwölkchen die Lage des einsamen Weilers Lechleiten. Schnee, nichts als Schnee erblickt das Auge und die Stille der ganzen Natur erhöht den Ernst der Landschaft. Würde nicht die Sonne so schön leuchten und das Blau des Himmels lächeln, man könnte sagen: hier sieht es traurig aus.

In Lechleiten erregte die Ankunft der „Städtler“ das unverhohlene Erstaunen nicht blos des Wirthes, der sich ob dieses unverhofften Besuches sogar entschloß, für einige Minuten die qualmende Tabakspfeife aus dem Munde zu nehmen, um die mit weißem Reife dicht überzogenen Ankömmlinge besser anstaunen zu können, sondern auch aller Anwesenden in der Wirthsstube. Diese war nämlich gedrängt voll und ein dichter Tabaksrauch erfüllte den niedrigen Raum, in welchem die Gluthhitze eines Backofens herrschte. Ein Dutzend Bursche und Mädchen gaben sich Sonntags-Vergnügungen hin und tanzten auf dem beschränkten Platze, welchen der ungeheure gemauerte Ofen und drei bis vier rohgezimmerte Holztische frei ließen. Die Tänzer stampften mit wahrhaft bewunderungswürdiger Ausdauer mit den schweren nägelbeschlagenen Bergschuhen auf den Dielen und schwenkten bei dem Klange einer Cither ihre Mädchen wirbelnd im Kreise, so daß die Fensterscheiben der Stube erzitterten. Die Bauern des Dorfes saßen, unbekümmert um den Höllenspectakel, eng aneinander gedrängt mit Pelzkappen oder spitzen Hüten auf dem Kopfe um die schweren Tische und sprachen dem „Tiroler“ fleißig zu. Sie unterhielten sich einsilbig und richteten ihr Hauptaugenmerk auf ihre dampfenden Pfeifen, die, mit österreichischem Knaster gefüllt, gerade nicht das feinste Parfüm in der Wirthsstube verbreiteten. Ab und zu trugen der Wirth und die Wirthin, ein knochiges Mannweib, deren ungeschlachte Gestalt auf die Prädicate graziös und zart gewiß keinen Anspruch machte, die „Seidel“ und „Halben“.

Der gräuliche Spectakel, welcher die dumpfe Wirtsstube erfüllte, wurde plötzlich noch vermehrt, als der Kraxen-Michel eintrat und sich bei der Unterhaltung betheiligte. Dieser, seines Gewerbes ein Maurer, der im Sommer sein Geschäft in den hoch gelegenen Orten des Lechgebietes ausübt, im Winter dagegen seinen Verdienst verjubelt, war eine Art von Dorfdemokrat, wie aus seinen lärmenden Aeußerungen hervorging. Mit herausfordernden Mienen zog er seinen Geldbeutel und ließ dem Spielmann eine Halbe kommen, damit dieser einen Extratanz für ihn aufspiele. Dabei betheuerte er hoch und theuer, kein Mensch hätte ihm etwas einzureden, wenn er auch sein ganzes Geld vertrinke, er habe es im Sommer verdient und die reichen Bauern – dabei warf er einen zweiten herausfordernden Blick auf die an dem Tische sitzenden Dorfaristokraten – hätten ihm noch nie etwas zu schenken gebraucht. Mit einem Zuge leerte er hierauf ein Glas, bestellte eine frische Halbe und tanzte wie toll nach dem Tacte des lustig klingenden Ländlers, den der alte Citherspieler anschlug, in der Stube herum. Da er in seinem stolzen Selbstbewußsein keine der Tänzerinnen beachtete, so machte er sich das Privatvergnügen, allein herumzuhüpfen, die verwegensten Capriolen auszuführen, dabei die wunderlichsten Gesichter zu schneiden und die Gäste mit Jauchzen und Schnaderhüpfeln zu vergnügen.

Diese Sonntags-Belustigungen dauerten bis spät in die Nacht. Kraxen-Michel wurde zum Schlusse von den Burschen an die Luft gesetzt und schimpfte noch weidlich auf die Reichen und die ganze Dorfschaft. Nach und nach verließen auch die Zecher die Schenke. Allmählich wurde es ruhiger im Wirthshause und die Tanzpaare eilten über die vom Monde beleuchteten beschneiten Pfade. So endete ein Sonntagsball in Lechleiten.

Lechleiten gehört mit Warth, Hochkrummbach, Zürs, Bürselegg, Zug und Anger zu den höchstgelegenen Orten von Vorarlberg und Westtirol und zu dem Bergbezirke, der mit dem Namen Thamberg bezeichnet wird. Dieses Bergland liegt im rauhesten Gebiete der Lechthaler- und Vorarlberger Alpen. Die ungewöhnlich hohe Lage über der Meeresfläche (Hochkrummbach liegt fünftausendzweihundertzweiundsiebzig, Bürselegg fünftausendzweihundertzweiundachtzig Fuß hoch) bedingt ungemein strenge, schneereiche Winter, und besonders Hochkrummbach ist in dieser Beziehung berüchtigt. Der Schnee liegt oft mehr als zwanzig Fuß hoch auf dem öden Plateau, über welches sich die ärmlichen Häuser des Dörfchens zerstreuen. Da die Höhenlage und die rauhen Winde jegliche Baumvegetation unterdrücken, so müssen die Einwohner die Holzvorräthe für den Winter während der bessern Jahreszeit von tiefern Lagen herauftransportiren, und traurig genug ist es, wenn bei ungewöhnlich lang dauerndem strengem Winter das gesammelte Holz zu früh zu Ende geht und starker Schneefall den Verkehr mit den nächst gelegenen Orten unterbrochen hat. In einem solchen Winter soll sich der Pfarrer des Ortes nur dadurch vor dem Erfrieren gerettet haben, daß er, als sein Holzvorrath verbraucht war, Betstühle und zuletzt die hölzernen Heiligen des Kirchleins zum Einheizen benutzte. Der ehrwürdige St. Petrus und die übrigen Apostel mußten den Feuertod erleiden und sollen im mächtigen Ofen des Seelenhirten gar gräulich geprasselt haben. In solchen strengen Wintern, die in ähnlicher Weise auch im Orte Balderschwang, dem sogenannten baierischen Sibirien vorkommen, werden unter dem haushohen Schnee förmliche Tunnel ausgeschaufelt, welche den nothdürftigsten Verkehr zwischen den einzelnen Häusern des Ortes vermitteln. Uebrigens ziehen die meisten Bewohner im Herbste von Hochkrummbach nach Warth, da hier das Klima etwas milder ist. Welchen Begriff von mildem Klima man in diesen Gegenden hat, möchte aus der Höhenlage von Warth, die nicht weniger als viertausendsechshundert Fuß beträgt, hervorgehen.

Von einer Wanderung nach Hochkrummbach wurde um so mehr abgesehen, als nach glücklich vollbrachter Uebersteigung des Schrofenpasses die Sehnsucht nach wirthlicheren Gegenden erwachte. Moosrainer-Sepp machte noch bis Anger, dem Hauptorte des ganzen Hochlandes, den getreuen Begleiter. Von da besserte sich der Weg einigermaßen, indem der Pfad von genanntem Orte nach Stuben häufiger begangen und daher auch mehr ausgetreten wird.

Auf dem Flexenjoche zwischen Zürs und Stuben kam eine Anzahl von Bauern mit Schaufeln bewaffnet den Berg herauf; unter der rasch dahin schreitenden Schaar befanden sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_135.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)