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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Schreiber, Commissionär und Factotum bei Kuntz gewesen, daher seine genaue Kenntniß.

Der folgende Morgen fand mich im Bureau des Rechtsanwalts Helmreich. Ich erlangte eine Unterredung mit dem Bureauvorsteher, bevor der Rechtsanwalt in seiner Geschäftsstube erschienen war. Diese Unterredung kostete mich den zweiten Zehnthalerschein; dafür wurde mir aber auch der Einblick in die Manualacten des Advocaten gestattet. In diesen steckte der Original-Einlieferungsschein, den ich ausgestellt haben sollte und von dem nur eine Copie als Beweisstück zu den Proceßacten Fernow wider Kuntz gegeben worden war. Ich nahm das Actenheft in die Hand und trat damit zum Fenster. Vor diesem lag ein öder Hof, auf welchen ab und zu ein Regenschauer niederklatschte. Hier und da trat auch die Sonne durch die Wolken und erhellte den nassen Hof und die staubigen Acten da drinnen mit demselben freundlichen Glanz. Ich hob den Postschein, der lose im Heft lag, aus demselben heraus und betrachtete ihn. Ein Fremder müßte geglaubt haben, ich hätte das Papier mit den Augen durchbohren wollen; so stierte ich es an. Natürlich richtete ich meine Aufmerksamkeit zunächst auf die Jahreszahl; denn hätte es mit dieser seine volle Richtigkeit gehabt, so würde der Absender wohl nicht in die Amtsstube gekommen sein, dachte ich, um die Zahl von mir verändern zu lassen. Allein mit welcher Herzensangst ich auch jeden Strich prüfte und studirte, es war ganz unzweifelhaft: da hatte früher gestanden: „den 31. December 1867“, und ich hatte durch die unzweifelhafte Sieben dick eine Sechs geschrieben. Ich hielt den Schein gegen das Licht, wendete ihn links, wendete ihn rechts, besah die Vorder-, durchforschte die Rückseite; aber Alles vergeblich. Trostlos ließen meine Hände das Papier sinken; es war gar nicht anders möglich: war dieser Schein echt, so hatte Herr Kuntz den Brief auch eingeliefert und dann, so unglaublich es mir schien, mußte ich ihn einzutragen vergessen haben, und er mußte verschwunden sein. Aber es war ja gar nicht denkbar, daß ich die Eintragung vergessen haben sollte, und daher war der Brief nicht eingeliefert, und deshalb mußte der Schein falsch sein. Der Bureauvorsteher, der mein Gebahren schon lange mit ängstlichen Blicken verfolgt hatte, sagte barsch:

„Jetzt geben Sie mir meine Acten wieder, Gutester! Es könnte sonst durch irgend einen Zufall etwas wegkommen.“

Ich nahm den Schein nochmals auf und hielt denselben, ihn wie ein Ertrinkender, der den Horizont über sich zum letzten Male sieht, betrachtend, in die Höhe. In diesem Augenblicke flog ein freundlicher Sonnenstrahl zum Fenster herein und auf den Schein. Da, da war es! Ich hatte es gefunden! Gott sei Dank!

Ein nervöses Zittern durchlief mich vom Scheitel bis zur Sohle. Ich versuchte, mich möglichst zu beherrschen, legte das Papier anscheinend ruhig wieder in die Acten, übergab diese dem Bureauvorsteher, ergriff meinen Hut, empfahl mich und stürzte davon. Ich eilte auf dem kürzesten Wege zum Postgebäude. Ich glaube, daß ich auf der Straße ein halbes Dutzend kleine Kinder umgerannt habe und mit tausend Personen carambolirt bin; ich erinnere mich dunkel, daß ich gegen einen Milchwagen rannte und Gefäße mit Milch umstieß. Ich meine, daß ich einen Leichenzug durchbrechen mußte und dabei fürchterliche Püffe erhielt, aber endlich, endlich war ich am Ziele.

Im Postgebäude angekommen, eilte ich zu meinem Freunde, dem Postassistenten B., welcher den Schlüssel zu der Stube der reponirten Acten hatte, bat ihn, mir dieselbe aufzuschließen, und stürzte dann, während er mir langsam folgte, zu jenem Zimmer. Dort erklärte er sich bereit, mir zu helfen, wenn ich irgend etwas suchen wollte, und als ich ihm entgegnete, ich müsse in der Annahmeliste für December 1864 nachforschen, ob sich dort nicht ein Geldbrief von dreitausend Thalern nach Hagen eingetragen fände, fingen wir Beide an, in dem Actenwust zu wühlen, daß die Staubwolken um uns aufwirbelten.

„Um ein Haar,“ sagte B., „wärst Du zu spät gekommen; denn die Listen für 1864 werden binnen Kurzem zum Einstampfen verkauft werden. Jetzt ist es aber noch früh genug, wie es scheint; denn hier habe ich die letzte Liste von 1864.“

In fünf Minuten mußte sich mein Schicksal entschieden haben. Während mein Freund gleichgültig in dem Actenstücke blätterte, nahm ich wahr, wie mir dicke, schwere, kalte Tropfen über die Stirn rannen. Ich fühlte, wie mich eine große Schwäche überkam, und mußte mich an ein Repositorium lehnen, damit ich nicht umfiel. Ich wollte meinem Freunde die Acten fortnehmen und selbst darin blättern, allein ich hatte nicht die Kraft dazu und ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken.

„Mein Gott, was ist Dir?“ sagte B. erschreckt. „Du bist ja weiß, wie die Wand. Ich will Dir Wasser holen.“

„Nein, nein, fliege zuvor die Liste durch, ob Du den Geldbrief findest!“

B. hatte zwei Seiten flüchtig angesehen, dann, in der Mitte der dritten stutzend, sagte er:

„Nummer 219, dreitausend Thaler, Fernow, Hagen.“

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entrang sich meiner Brust.

„Und Colonne ‚Gewicht‘?“

„Drei und ein Drittel Loth.“

„Und angenommen?“

„Von Dir.“

Ich hätte aufjauchzen mögen vor Entzücken. Ich hatte Recht gehabt: der Einlieferungsschein vom December 1867 war falsch. Er war damals auf den Brief hier in dieser Liste ertheilt und nun von dem Absender für neu ausgegeben worden. Um letzteres zu ermöglichen, hatte Kuntz auf dem Scheine aus der 4 in der Zahl 1864 eine 7 gemacht. Dies hatte er einzig und allein durch Folgendes bewerkstelligt. Die Ziffer 4 besteht aus einem Verticalstriche und einem Winkel, dessen einer Schenkel den Strich trifft. Die Linie jenseits des Punktes, in dem der Strich von dem einen Schenkel getroffen wird, nach oben zu, hatte Kuntz ausradirt und so aus der 4 ein Zeichen gemacht, das von der Ziffer 7 durchaus nicht zu unterscheiden war. Dann hatte er mich, den Zeitpunkt, wo ich viel Arbeit unter den Händen hatte, auswählend, bewogen, über diese 7 noch die 6 zu malen, und ich hatte seine Manipulation erst recht unfindbar gemacht und versteckt, obendrein auch noch den Schein als richtig anerkannt.

Pünktlich beim Ablaufe der mir gegebenen Frist stand ich vor dem Oberpostdirector. Ich hatte kaum meinen Vortrag beendigt, als auch schon die Requisition an den Staatsanwalt um Beschlagnahme des Scheins bei dem Rechtsanwalt Helmreich unterwegs war.

Drei Monate später standen der Rittergutsbesitzer Kuntz und ich uns wieder gegenüber; aber diesmal nicht in meinem Bureau, sondern im Schwurgerichtssaale. Unter den Geschworenen waren nur zwei, welche erklärten, daß sie die Rasur in dem ihnen vorgelegten Einlieferungsscheine erkennen könnten, die Augen der übrigen Herren reichte dafür nicht aus. Der Angeklagte, der während der ganzen Verhandlung alle Anschuldigungen mit dem Scheine der tiefsten Entrüstung bestritten und das Ganze für ein ruchloses Complot, eine Komödie der Post erklärt hatte, ließ, als ihm der Präsident verkündigte, die Geschworenen hätten die Thatfrage bejaht, plötzlich die Maske fallen. Er flehte den Gerichtshof um Milde bei der Strafzumessung an und erzählte von den schlimmen Umständen, in denen er sich befunden habe, von der Nothwendigkeit, die dreitausend Thaler zur Deckung anderer Schulden als der Zinsschuld zu verwenden, und von der Reue, die er darüber empfinde, in dieser Noth gefehlt zu haben. Er räumte Alles ein, was vorher von ihm so energisch zurückgewiesen worden war. Der Gerichtshof nahm aber mehr Rücksicht auf die fürchterliche Lage, in welche mich der Unselige gebracht hatte, als auf seine Bitten. Er verurtheilte ihn wegen Urkundenfälschung zu fünf Jahren Zuchthaus.

Ab und zu begegne ich einem gänzlich verkommen aussehenden Individuum mit langem struppigem Barte und großen grauen Augen. Es richtet sie immer starr auf mich, murmelt etwas in den wirren Bart, das einem bösen Fluche gleicht, und wendet dann heftig den Kopf zur Seite, wie um mir seinen Haß zu zeigen. Er scheint mir noch nicht vergeben zu haben, wie ich ihm längst vergeben habe, obwohl jene Stunden solche waren, die ich nie wieder erleben möchte.

Sch.




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