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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Das unglücklichste Loos fiel dem Sohne Molly’s, Emil, und seinen noch lebenden Hinterlassenen zu. Seine ersten Kindheitsjahre verbrachte er, wie erwähnt, bei der Tante in Langendorf; nach der Scheidung Bürger’s von seiner dritten Frau verweilte er kurze Zeit im väterlichen Hause. Seine spätere Ausbildung empfing er in der Schulpforte bei Naumburg; als er diese Anstalt verließ, trat er zur Erlernung des Buchhandels bei dem Freunde seines Vaters, J. Ch. Dieterich zu Göttingen, in die Lehre. Nachdem er in mehreren renommirten Buchhandlungen Deutschlands servirt hatte, fand er im F. A. Brockhaus’schen Geschäft zu Leipzig eine Anstellung. Dort verlobte er sich, und der Wunsch, bei Begründung eines eigenen Herdes sich zugleich eine feste Lebensstellung zu schaffen, veranlaßte ihn, sich 1821 in Naumburg zu etabliren. Zwei Jahre später vermählte er sich mit seiner Braut, der am 6. Februar 1801 geborenen Marie Concordia Wilhelmine Anton, die ihn im December desselben Jahres mit einer Tochter, Friederike, und im Sommer 1825 mit einem zweiten Kinde, Emilie, beschenkte. Letztere ist jetzt mit dem Buchdruckerei-Factor einer Leipziger Officin verheirathet.

Trotz des emsigsten Fleißes wollte es Emil Bürger mit seiner Buchhandlung nicht glücken. Ohne ausreichende Mittel, hatte er sich aus Localrücksichten bewegen lassen, den Verlag einiger kostspieliger Werke zu übernehmen, und mußte schließlich sein Geschäft liquidiren. Er zog nach Leipzig zurück, konnte aber als verheiratheter Mann keine seinen Wünschen und Fähigkeiten entsprechende, gut salarirte buchhändlerische Stellung finden. Die Pflicht des Gatten und Vaters nöthigte ihn, ein Unterkommen mit nur spärlichem Ertrag anzunehmen; doch bei dem unterstützenden Fleiße der Mutter hätte der bescheidene Erwerb wohl ausgereicht, wenn nicht der Vater bald erkrankt und nach langem Siechthum am 28. März 1841 seinen Leiden erlegen wäre. Zwar arbeitete die treue Mutter unermüdlich Tag und Nacht mit der Nadel, um die schlimmste Sorge von den Häuptern der geliebten Kinder fernzuhalten, und diese, welche nach zurückgelegter Schulzeit die Anfertigung künstlicher Blumen erlernten, halfen der Mutter nach Kräften, die mäßigen Bedürfnisse der Familie durch den Ertrag ihrer Hände zu bestreiten.

Aber wie karg ist der Gewinn, den weibliche Handarbeit erzielt! Friederike steht heute noch, wie seit achtundzwanzig Jahren, einem Blumengeschäfte vor; allein sie hat in vollstem Maße die Schwere des Kampfes um das Dasein erfahren.

„Gern,“ schreibt mir das brave Mädchen, welches mir diese Anführung ihrer Worte verzeihen wolle, in einem ihrer anspruchslosen Briefe – „gern möchte ich der Mutter nach einem so vielgeprüften, an Mühen überreichen Leben einen heiteren Lebensabend bereiten, aber der Wunsch bleibt hinter der zwingenden Macht der Verhältnisse zurück. Zumal da alle, auch die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse eine so enorme Steigerung erfahren, reducirt sich der ohnehin mäßige Gewinn auf noch weniger. Wir haben, so weit meine Erinnerung zurückreicht, entbehrt und ertragen, ohne den weniger Eingeweihten ahnen zu lassen, wie schwer es uns oft zu tragen wurde.“ Wie Friederike mir in demselben Briefe mittheilt, ließ der verstorbene König Friedrich August von Sachsen den Hinterbliebenen des Dichters eine Summe von hundert Thalern anweisen. Die Schillerstiftung erfreute sie zweimal mit einer Pension.

Möge der „Unstern“, der bis jetzt über den letzten Erbinnen des großen Dichternamens geruht hat, erbleichen, und mögen sie, belohnt durch das Bewußtsein treu erfüllter Lebenspflicht, dereinst das müde Haupt versöhnter mit dem ihnen beschiedenen Geschicke zur Ruhe legen, als ihr unglücklicher Großvater![1]




Winter-Studien.
1. Reif- und Rauhfrost.


In einer klaren Octobernacht, wenn die Sterne hell herniederfunkeln und wir von einer Kirmeß oder einem Beisammensein mit guten Freunden den Heimweg suchen, bemerken wir gewöhnlich zum ersten Male im Herbste ein eigenthümliches, tausendfältiges Flimmern und Glitzern auch vom Erdboden her, und die hölzerne Bachbrücke, Bohlen wie Geländer, erscheint mit einem leichten weißen Anstriche versehen.

Am Morgen sehen wir dann die ganze Landschaft mit Lappen und Streifen des weißen Winterpelzes ausgeziert, von der frischgrünen, kaum aufgegangenen Wintersaat an, bis zu dem entlaubten Gebüsche des Parkes, über dessen Aesten sich in Diamantenschnüre verwandelte Spinngewebe und Fäden des Altweibersommers hinziehen; nur der eiserne Staketenzaun und das Zinkdach der Laube haben vorläufig den weißen Besatz abgelehnt.

Wenn meine alte hustende Großmutter auf unser Thema zu sprechen kam und den Winter eine abscheuliche Jahreszeit schalt, die höchstens dazu gut sei, uns den Frühling werther und theurer zu machen, dann pflegte der Großvater in seiner poetischen Art zu erwidern: „Und ist das nicht auch ein Verdienst? Frühling, der holde, lächelnde Knabe, würde nicht halb so oft besungen, nicht entfernt so heiß ersehnt werden, wenn er nicht auf den gestrengen Herrn Winter folgte; aber was Deine Meinung von der Häßlichkeit und Langweiligkeit des Winters betrifft, da sind wir Nordländer so wenig urtheilsfähig, wie der Schweizer in Betreff der Gebirgsschönheit, und wir alten Leute, die nur noch seine Beschwerden empfinden, sind’s erst recht nicht. Man müßte einem Aequatormenschen – natürlich ganz mit Pelzen verwahrt – unsern Winter in seiner Pracht zeigen; der würde sicherlich in einem Feengarten zu wandeln glauben, wenn er Busch und Baum mit edelsteinblinkendem Rauhfroste neubelaubt sähe, und wie die Sonne in unendlicher Klarheit über das unabsehbare Schneefeld, auf die rüstigen Heere munterer Schlittschuhläufer und Schlittenfahrer und die Häuser mit den gastlichen Rauchsäulen strahlt.“

Die nachfolgenden Skizzen sollen den Beweis liefern, daß der Winter nicht nur der Augenlust, sondern auch dem Wissensdurste eine Quelle reicher Anregungen bietet. Wir werden uns in das warme Zimmer zurückziehen und durch eine Reihe leicht anstellbarer Versuche das Verständniß der Wunder draußen zu erleichtern suchen.

Wenn es kalt genug ist, können wir uns jeden Augenblick überzeugen, daß ein geheizter eiserner Ofen, lange bevor er die Zimmerluft über den Schmelzpunkt des Eises erwärmt hat, die Fensterscheibenblumen aufzuthauen beginnt. Es gehen also Strahlen von dem erhitzten Metallmantel aus, die ihre Wärme nicht an die kalte Luft verlieren, und solche Wärmestrahlen – wie die Lichtstrahlen eine Wellenbewegung des feinen, das ganze Weltall erfüllenden Stoffes – sind es, durch welche die Sonne mitten durch den ungeheuer kalten Weltraum hindurch (man rechnet auf zweihundert Grad Kälte in demselben) alles Leben unserer Erde weckt und erhält. Wenn wir uns unserer kleinen Zimmersonne, die wir bekanntlich mit verwandelter Sonnenkraft (Holz oder Kohlen) speisen, gegenüberstellen, so bläst sie uns ihre Hitze in recht aufdringlicher Weise entgegen, und wir möchten vorn verbrennen, während wir hinten Frost empfinden, bis die

  1. Ohne Zweifel werden manche der freundlichen Leser und Leserinnen dieser Nachrichten den Wunsch hegen, für die vielen genußreichen Stunden, welche sie den Dichtungen des so schwer vom Schicksale geprüften Mannes verdanken, einen Theil des Unrechts, das ihm seine Mitwelt zugefügt, nun an seinen noch lebenden Nachkommen gut zu machen, damit der greisen, fast dreiundsiebenzigjährigen Frau seines Sohnes und ihren wackeren Töchtern, die den harten Lebenskampf bis hierher so tapfer gekämpft und die Ehre des gefeierten Namens, den sie tragen, vor jedem Makel rein bewahrt haben, ein sorgloserer, froherer Lebensabend beschieden werde. Von der gleichen Empfindung beseelt, hat der Besitzer der oben erwähnten Haarlocke Molly’s mir dies sein theuerstes Kleinod mit der Bitte überantwortet, es zum Besten der Hinterbliebenen des Dichters zu verwerthen. Ich werde die kostbare Reliquie dem Edlen übersenden, der mir zu dem angedeuteten Zwecke bis zum 31. März dieses Jahres das höchste Gebot auf dieselbe zukommen läßt. Zugleich erkläre ich mich mit Freuden bereit, Gaben der Liebe und Theilnahme für die Bürger’sche Familie in Empfang zu nehmen und an dieselbe zu übermitteln, worüber seiner Zeit öffentliche Rechenschaftsablage erfolgen wird.
    Adolf Strodtmann,     
    Henni’s Villa in Steglitz bei Berlin.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_044.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)