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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Ja, Mama, ich will Dich lieb haben!“ versicherte der Kleine in dem ihm eigenen derbaufrichtigen Tone. Er sah neben ihrer Schulter hinweg nach seinem Vater. „Es ist ja gar nicht wahr, Papa,“ sagte er fast brummig, „sie ist keine Hopfenstange, und ihre Zöpfe sind lange nicht so schlimm, wie bei unserem –“

„Leo – vorlauter Bursch’!“ schnitt Mainau die weiteren Auslassungen des Kindes ab. Er war sichtlich beschämt und in der peinlichsten Verlegenheit, während um Lippen und Augen des alten Herrn ein verhaltenes Lachen zuckte. Herr von Rüdiger verfiel abermals in einen heftigen Hustenanfall.

„Mein Gott, was hat denn der arme Sünder da verbrochen?“ unterbrach er plötzlich sein diplomatisches Manöver – er zeigte nach einer der dunkelsten Zimmerecken; dort kniete Gabriel mit gesenktem Kopfe vor einem Stuhle; die Hände lagen gefaltet auf einem dicken Buche.

„Mosje Leo ist unfolgsam gewesen; ich kann den widerhaarigen Burschen nicht empfindlicher züchtigen, als wenn ich Gabriel für ihn büßen lasse,“ sagte der Onkel gelassen.

„Was – sind denn in Schönwerth die Prügelknaben wieder Mode geworden?“

„Wollte Gott, sie wären nie aus der Mode gekommen! Dann stünde es besser um uns Alle,“ versetzte der Hofmarschall schneidend.

„Steh’ auf, Gabriel!“ befahl Mainau, seinem Onkel den Rücken wendend. Der Knabe erhob sich, und Mainau nahm mit einem sarkastischen Lächeln das dickleibige Legendenbuch auf, aus welchem der arme Sündenbock allem Anscheine nach hatte vorlesen müssen.

Mitten in diese peinliche Scene hinein trat der Haushofmeister. Er trug eine Platte voll Erfrischungen. So tief gereizt der alte Herr in diesem Momente auch sein mochte, er richtete doch sofort seine Augen scharf musternd auf den reichbesetzten Silberteller, den ihm der Haushofmeister auf seinen Wink hinhielt.

„Ich werde dem hirnlosen Verschwender drunten in der Küche wohl einmal das Handwerk legen müssen,“ murmelte er ingrimmig. „Solche Berge des theuersten Fruchteises! … Ist er verrückt?“

„Der junge Herr Baron haben so befohlen,“ beeilte sich der Haushofmeister leise zu sagen.

„Was giebt’s?“ fragte Mainau; er warf den Folianten auf den Stuhl und trat mit finster gefalteter Stirn näher heran.

„Nichts von Belang, mein Freund,“ begütigte der Onkel mit einem scheuen Seitenblick – er war erschrocken und so roth geworden wie ein junges Mädchen, das man bei einem oft gerügten Fehler ertappt. „Bitte, liebe Gräfin, legen Sie doch endlich einmal den Hut ab,“ sagte er zu der jungen Frau, „und essen Sie ein wenig von diesem Ananaseise! – Sie werden der Erquickung bedürfen nach der heißen Fahrt.“

Liane strich liebkosend mit der Hand über den Lockenkopf des kleinen Leo und küßte abschiednehmend seine Stirn. „Ich muß danken, Herr Hofmarschall,“ versetzte sie sehr ruhig. „Sie verweigern mir vorläufig die Stellung der Hausfrau und den Namen Mainau – die Gräfin Trachenberg aber kann unmöglich dem Anstand und der guten Sitte in das Gesicht schlagen, indem sie ohne weiblichen Schutz in einem fremden Hause in Herrengesellschaft verbleibt. Darf ich bitten, daß man mir ein Zimmer anweist, in welches ich mich bis zu der Ceremonie zurückziehen kann?“

Vielleicht war der alte Herr mit dem impertinenten Diplomatengesicht noch niemals so energisch zurechtgewiesen worden, oder er hatte in der überaus einfach gekleideten Mädchengestalt, unter dem das jugendliche Antlitz halb verdeckenden grauen Schleier die Schüchternheit und das Gedrücktsein der finanziellen Verarmung nothwendig vorausgesetzt – genug, seine Augen öffneten sich weit, und der sonst unleugbar geistvolle Ausdruck seiner Züge wich einer nichts weniger als schlagfertigen Verblüfftheit. … Herr von Rüdiger rieb sich hinter seinem Rücken schadenfroh die Hände, Mainau aber fuhr in sprachloser Ueberraschung herum – hatte wirklich „das bescheidene Mägdelein mit dem furchtsamen Charakter“ gesprochen?

„Eh – wir sind sehr empfindlich, meine kleine Gräfin,“ sagte der Onkel nach einem verlegenen Räuspern.

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem Lebens- und Leidensbuche eines Dichters.
Nach handschriftlichen Quellen. Von A. Strodtmann.
2. Molly.
(Schluß.)

Die Pflege ihres schwer erkrankten ältesten Bruders, der im folgenden Herbste an der Schwindsucht starb, führte zum Unglück Molly-Augusten gegen Weihnacht 1780 auf die lange Zeit von anderthalb Jahren in Bürger’s Haus. Sie hatte bis dahin theils bei der Stiefmutter, theils bei der verheiratheten Schwester in Bissendorf gelebt und den Geliebten nur selten bei einem flüchtigen Besuche in Gesellschaft Dorettens wiedergesehen.

Die Gedichte Bürger’s, vor Allem die „Elegie, als Molly sich losreißen wollte“, verrathen uns, daß ihr frommes, keusches Gemüth noch strenger und pflichtgetreuer, als Jener, die allverzehrende Liebe bekämpft, daß sie dem stürmischen Drängen seiner Leidenschaft, so sehr sie dieselbe theilte, Jahre lang unter den stärksten Prüfungen widerstanden hatte. Der erneuerte Anblick des Geliebten, der ohne das Lächeln ihres Mundes, den beseligenden Strahl ihres blauen Auges, das „süße Huldgekose“ ihrer Flötenstimme einem frühen Grabe entgegen zu siechen schien, brach endlich den Heldenmuth ihrer Tugend. Nicht als Sünde, sondern als ein vorbestimmtes Verhängniß, als eine unheilbare Krankheit oder ein allmächtiges Gebot der Natur erschien es den Liebenden, wenn sie dem „blöden Wahne“ der „Menschensatzung“ Trotz boten und dem lockenden Sirenenliede ihrer Herzen folgten.

Die Sonne, sie leuchtet; sie schattet, die Nacht;
Hinab will der Bach, nicht hinan;
Der Sommerwind trocknet; der Regen macht naß;
Das Feuer verbrennet. – Wie hindert ihr das? –
O laßt es gewähren, wie’s kann!

Und Dorette? – Ohne Zweifel hatte das jahrelange eigene Leid und der tägliche Anblick ihres Gatten, der „wie ein Schlaftrunkener, in ein dumpfes Grab verschlossen“, umherschwankte und sich nur noch den Tod wünschte, ihrer tief erschütterten Seele jedes besonnene Denken und sichere Fühlen geraubt. Und dann – auch sie hatte Goethe’s „Stella“ gelesen und wieder gelesen. Cäcilie wies ihrer großmüthigen Dulderseele den Weg. Wie die Gemahlin des thüringer Grafen, als dieser ihr die junge Morgenländerin brachte, welche seine Fesseln gelöst und ihn aus der Sclaverei gerettet hatte, rief sie der Schwester – auch wohl „unter tausend Thränen“ – zu: „Nimm Alles, was ich Dir geben kann! Nimm die Hälfte Deß, der ganz Dein gehört. – Nimm ihn ganz! Laß mir ihn ganz! – Du hast ihn gerettet, von ihm selbst gerettet – Du giebst mir ihn wieder.“

Es ist nicht unseres Amtes, diese Sophisterei der Leidenschaft zu entschuldigen oder zu verdammen. Wir suchen einzig, aus dem uns vorliegenden Material das psychologische Verständniß einer Verirrung zu gewinnen, die ein Glied in der langen Kette seltsamer Herzensgeschichten an Ende des vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts ist. „Werther“, „Stella“, „Die Geschwister“, „Die Wahlverwandtschaften“ führen den Leser nur darum in das Nachtgebiet elementarer Leidenschaft, weil die Krankheit, welche sie schildern, wie eine geistige Epidemie auf den Gemüthern der Zeitgenossen lag. Der Frevel wider das ewige Gesetz der Sittlichkeit rächte sich zudem ja bitter genug an Denen, welche sein in toller Verblendung spotteten.

Während ihres Aufenthaltes in Appenrode malte Auguste in Pastellfarben das wohlgelungene Bild ihrer Schwester Dorette und, vor einem Spiegel sitzend, ihr eigenes Bild, als Geschenk für ihren jüngsten Bruder George, aus dessen Nachlasse mir die beiden Portraits von ihrem jetzigen Besitzer zur Nachbildung für die Gartenlaube freundlichst übersandt worden sind. Ein anderes,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_042.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)