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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

heißesten Sommern ein nie versiechender Quell der Erfrischung. Die Verbindung mit Zittau ist gut und bequem – kurz, es fehlt nichts, um den Aufenthalt zu einer beneidenswerthen Sommerfrische zu gestalten, und wenn die Zittauer nicht ohne Ausnahme ihren Sommersitz hier aufschlagen, sondern fernere Orte aufsuchen, so geschieht dies wohl aus der sehr erklärlichen Erwägung, daß man die ehrbaren Gesichter der Zittauer Patrizier, welche man in der Stadt zehn Monate des Jahres hindurch sieht, nicht durch zwei Monate desselben auf dem Lande genießen will, sondern vorzieht, neuen Lebensstoff durch Anschauung anderer Menschengestalten zu gewinnen.

Wollen wir den Oybin besteigen, so können wir dies auf dem oben von mir geschilderten Pfade thun. Wir wollen aber der Führung unseres trefflichen Künstlers folgen und wenden uns von der anderen Seite des Oybinthales rechts in den sogenannten „Hausgrund“, welcher den Oybinfelsen auf der nördlichen Hälfte umschließt, eine üppige Waldschlucht, an deren Ende der dunkle Spiegel eines Forellenteiches uns das Bild der hoch am Felsen hängenden Kirchenruine und des Raubschlosses ernst wiederspiegelt. Gleichsam wie eine märchenhafte Vision, wie eine Phantasmagorie hat der Meister dieses romantische Bild aufgefaßt, und so erscheint es auch dem Wanderer, welchen alsbald der dunkle Wald- und Felsenpfad, der nach der Ruine führt, in seine schattige Kühle aufnimmt.

Noch ergriffen von dem Bilde im Grunde, das ich nur als einen landschaftlichen Juwel von dem tiefsten Glanze bezeichnen kann, gelangen wir nach Ersteigung einer nicht ganz unbeträchtlichen Höhe an’s äußere Klosterthor. Mit feinem Sinne hat unser Künstler den Charakter der Ruine in den schönen gothischen Bogenfenstern, in den üppig wuchernden Farrnkräutern, in den originellen Capitälchen – lauter Einzelnheiten aus dem schönen Gesammtbilde des herrlichen Baues – angedeutet, und den Geist des Zeitalters in dem Marienbilde, auf welchem sich heitere Schwalben schwingen, gekennzeichnet.

Wir halten vor dem Klosterthore unter herrlichen Buchen und Eichen eine kurze Rast und schauen hernieder in das liebliche Thal unter uns. Aus dem Grün der Gärten lugen die friedlichen Hütten hervor; durch die Matten schlängelt sich der Bach, und in geordneten Reihen lehnen sich bis an den Waldrand die wogenden Kornfelder wie ein ausgebreiteter Teppich an. Am Fuße des Hochwaldes, da wo das Thal etwas lehnan steigt, schimmern freundliche Villen und darüber ruht in Sommerstille und Mittagsgluth träumerisch der Hochwald.

Durch das äußere Klosterthor gelangt man an den Vorplatz, welcher vor dem Eingange der Kirchenruine liegt. Stolz wölbt sich hier das grüne Dach hochgewachsener Buchen, durch deren schönverzweigtes Geäst und frisches Blättergrün die Kirchruine in vollem Sonnenlichte farbensatt hindurchschimmert. Einige Schritte seitwärts, und es eröffnet sich überraschend der Blick in die jähe Tiefe des Hausgrundes. Wie ein klares Auge des Waldes schaut der von Schilf umgebene Forellenweiher zu uns empor. An der Erzbüste des Oybinforschers Peschek vorüber, einem vorzüglichen Werke des Bildhauers Donndorf in Dresden, das uns mit seinen freundlichen Zügen willkommen heißt, treten wir durch die schattige, architektonisch außerordentlich wirkungsvolle Pforte in die weite Kirchenhalle. Ueberraschend wirkt die kühne Wölbung des Chors; vor Allem aber ist das Maßwerk der Fenster von vollendeter Schönheit und großer Originalität. Der Bau ist aus der bessern Zeit der gothischen Kunst und zeichnet sich durch seinen lebensvollen, schlagkräftigen Eindruck vor vielen anderen gothischen Werken aus.

Welch ein Gegensatz gegen die ruhigen ernsten Massen des romanischen Stiles, gegen die vornehme Feierlichkeit der säulengetragenen Flächen! Hier drängt, strebt, blüht und lebt Alles zum Himmel empor; die ganze Architektur mit allen ihren Einzelnheiten erscheint als ein Hymnus, in dem jedes Capitälchen, jede Rosette, jede Säulenrippe zum Preise Gottes sich dar- und auszuleben berufen ist. Dazu wirken und winken überall in Fenstern und Thüren die blühenden Sträucher herein, und der herrliche stolze Wald umrahmt die Fenster, überragt die Wölbungen. Statt der gemalten Scheiben erblickt das Auge die goldgrünen Buchen auf blauem Himmelsgrunde und dazwischen die sonnengoldgetränkten ernsten Tannen, die sich zum herrlichsten Farbenteppich weben.

Der Gesang der munteren Vögel, vereint mit dem kräftig beleuchteten Architekturbilde, wirkt wie ein Gottesdienst von Form, Farbe und Tönen, gestaltet sich zu einem unvergleichlich harmonischen Stimmungsgebilde. Und nun ertönt auch vom Chore her ein schöner vierstimmiger Gesang. Menschenherzen, erhoben gleich uns von dem erhabenen Eindrucke des Bauwerkes und der Natur, sprechen im Liede ihr Empfinden aus.


(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Noch ein Stück Mittelalter. Unweit von Maulbronn erhebt sich aus der Hügelkette ein eigenthümlich gestalteter Berg hervor, der Sternenfels, und unmittelbar am Fuß des Sternenfels liegt ein stattliches Dorf, das im Allgemeinen nicht anders aussieht, als die Nachbarorte, und doch ist dieser Ort Kürnbach einzig in seiner Art, was seine politische Gestaltung anbelangt, und von dieser hier ein Wort.

Kürnbach ist nämlich ein Ort, der zugleich badisch und hessisch ist, ein sogenanntes Condominat.

Nun wird man freilich einwenden, der Umstand, daß die Grenze zweier Länder durch eine Ortschaft gehe, sei keine außerordentliche Rarität. Allein in Kürnbach richtet sich das Unterthansverhältniß der Einwohner lediglich nach den Häusern, in denen Dieser oder Jener, und sei es auch nur miethweise, wohnt, und die hundertundvierzehn hessischen und siebenundsechszig badischen Häuser, aus denen Kürnbach besteht, sind nicht nach Straßen oder in anderer Weise voneinander getrennt, sondern sie liegen zerstreut durcheinander. Wer dort in einem hessischen Hause wohnt, ist hessischer Staatsbürger einzig und allein deswegen, weil er auf hessischem Territorium wohnt, und alle Liegenschaften, Aecker, Wiesen etc., die Jemand besitzt, der in einem hessischen Hause – und sei es, wie gesagt, auch nur miethweise – wohnt, sind aus gleichem Grunde hessisch. In dem Augenblicke jedoch, in dem Derselbe ein badisches Haus kauft, miethet oder bewohnt, wird er mit seiner Familie und Hab’ und Gut badisch. Dort wechselt man also die „Nation“ nicht mit dem Rocke, wohl aber mit dem Hause und zwar ohne die geringste Schwierigkeit. Es bedarf keiner besonderen Naturalisation, keines Aufnahmeactes, keinem Eintrittsgeldes. Man kann dort in einer Stunde badisch, in der andern hessisch werden, ja wohl auch hessisch und badisch zu gleicher Zeit sein, wenn man ein hessisches und ein badisches Haus gleichzeitig bewohnt.

Die hessischen Häuser unterscheiden sich von den badischen durch eine kleine Tafel über der Hausthür, auf welcher eine Hausnummer angebracht ist; die badischen Häuser haben die Tafel nicht. Im Uebrigen sieht man den Häusern keine weiteren Nationalitätsabzeichen an. Es haben diese Häuser überhaupt keine Eigenthümlichkeit, nur das Schulhaus und das Rathhaus fallen unter ihnen auf. Ersteres ist ein neuer, eleganter, vor dem Orte gelegener Bau, welcher an die schönen Schulhäuser der Schweiz erinnert; letzterem, ein uraltes Mauerwerk, trägt zwei Wappen, wahrscheinlich die Wahrzeichen dieser Janusstadt, hat mehrere Thürmchen, ist auf der einen Seite aus rothen, auf der andern aus weißen Steinen aufgeführt und stellt mit seinen vielen Winkeln, An- und Aufsätzen so recht das Bild dieser verwinkelten unnatürlichen politischen Gemeinde dar.

Die Anfänge dieser Staatsbildung reichen natürlich bis in das Mittelalter zurück. Früher theilten sich Hessen und Württemberg in das Herrschafts- oder Oberaufsichtsrecht über Kürnbach. Der württembergische Antheil ist seit 1803 durch Vertrag an das Großherzogthum Baden übergegangen. Der Sitz der badischen Regierung über Kürnbach ist in Bretten, der der hessischen in Wimpfen, einer hessischen Enclave.

Es giebt freilich dort nicht viel zu regieren, denn die beiden, die hessische und die badische Gemeinde, bilden unter sich wieder eine Gesammtgemeinde mit einer besonderen Gemeindeverfassung, und diese genießt eine gewisse „Souverainetät“ in der europäischen Staatengruppe. Die badische sowohl wie die hessische Gemeinde hat wohl ihren besonderen Bürgermeister, allein die Verwaltung der Gesammtgemeinde, die Ortspolizei und den Vorsitz in dem Gesammtgemeinderath übt immer nur einer dieser zwei Bürgermeister aus und zwar alle sechs Jahre abwechselnd. Auch die Gemeindeorgane, Kirche, Pfarrhaus, Schulhaus, Rathhaus, Armenhaus sind Eigenthum der Gesammtgemeinde, welche selbst weder hessisch noch badisch, sondern nur kürnbachisch ist. Früher gehörte sie auch dem Zollverein nicht an und bildete eine Art Freihafen, das heißt einen Stapelplatz für die Schmuggelei im großartigsten Maßstabe. Sie hat noch heute ein besonderes Steuerexemtionsrecht, das heißt sie nimmt in keiner Weise an den badischen oder hessischen Steuern, seien sie direct ober indirect, Antheil, sondern sie zahlt an Baden und Hessen eine Ausgleichungssumme, das auf das Gesammtsteuercapital vertheilt wird. Dagegen sind über den Gerichtsstand in Civil-, Criminal- und Polizeisachen, soweit die Bürgermeister nicht zuständig sind, in vielen Fällen die Bestimmungen nicht ausreichend. Würden zum Beispiel Maßregeln gegen die Einschleppung der Cholera aus einer benachbarten Stadt nöthig sein, so müßte jedenfalls zwischen den betheiligten Staaten erst wieder ein besonderer Vertrag abgeschlossen werden.

Uebrigens entscheidet dort lediglich der Privatvortheil. Man wählt und verändert je nach Lage des einzelnen Falles sein Haus- und sein Unterthanenverhältniß. Erging von einem badischen Gericht gegen einen Badenser ein ungünstiges Urtheil, und es sollte vollstreckt werden, so wechselte er einfach sein Haus- und Unterthansverhältniß, stellte sich unter


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_035.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)