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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

germanischen Weiber der Vorzeit es gehabt haben mögen, die, auf der Wagenburg stehend, ihre Männer durch Beifall und Drohungen anfeuerten, die römischen Legionen zu durchbrechen.

Sie blickten mich neugierig an, hatten aber als Erwiderung meines „Grüß Gott“ nur ein wälsches „buona sera“. Einigermaßen verblüfft über diese Antwort, ging ich weiter.

Vor der Thür eines Hauses spielten flachsköpfige, bausbackige Kinder das Spiel, welches in meiner Heimath „Ringelringelreihe“ heißt. Hier sangen die Kinder:

„Rigna, regna,
pult un toschela*
de katz in gart,
der hunt en schatten.“

Als mich das kleine Volk wahrnahm, stockte das Spiel, und alle gafften mich an. Ich fing den Buben heraus, welcher mir der unternehmendste zu sein schien, und fragte ihn: „Wo wohnt denn der Herr Curat?“

Tiefes Schweigen. Endlich sagte ein kleines Mädchen erklärend: „Ar muanet en Pfaff“. Der Curat oder der „groasse Pfaff“ wie ihn die Luserner nicht etwa in verächtlichem Sinn nennen (der Cooperator heißt „kluaner Pfaff“), kam glücklicher Weise des Weges. Nach stattgehabter Begrüßung erklärte er sich gern bereit, mir über die interessante Gemeinde, welcher er vorstand, die erwünschte Auskunft zu ertheilen, und geleitete mich nach dem Wirthshaus.

Das war das deutsche Dorfwirthshaus, wie es im Buch steht; die hölzernen Tische und Stühle, der breite Ofen, die tickende Schwarzwälderin im Winkel, Alles war vorhanden bis auf die grellbunten Bilder, welche die Leidensgeschichte der heiligen Genoveva darstellen. Der Wirth hieß mich in seinem Idiom, welches ich aber bei aller Aufmerksamkeit nicht ohne die Erklärung des geistlichen Herrn verstand, willkommen und brachte herbei, was Küche und Keller boten: Wein, Brod, Polenta, Käse und als Hauptgericht eine geräucherte Wurst, auf deren Besitz er sich nicht wenig einzubilden schien. Es kamen auch die Honoratioren, nämlich der Herr Doctor aus Lavarone, der, auf deutschen Universitäten gebildet, natürlich der hochdeutschen Sprache mächtig war, und zwei junge Schullehrer, beide gebürtig aus Luserna und gegenwärtig in der Vacanz, da in den Gemeinden, wo sie wirkten, nur im Winter Schule gehalten wird.

Meine Wißbegierde hinsichtlich der Luserner sollte indessen nicht sofort befriedigt werden, vielmehr mußte ich meine Pflicht als Zugereister erfüllen und berichten, wie es draußen in der Welt hergehe, dazu prasselte der Regen, rollte der Donner, und vom Kirchthurm tönte das Wettergeläute, mit dem der rechtgläubige Tiroler das Gewitter zerstreuen zu können vermeint. Als sich nach einer Stunde der Himmel aufgeheitert hatte, entfernte sich der Arzt, nicht ohne mir mit süßsaurem Lächeln die Versicherung gegeben zu haben, solch ein gesunder Ort wie Luserna existire nicht noch einmal in der Welt – seit Weihnachten kein einziger Krankheitsfall!

Der Curat schlug einen Gang durch das Dorf vor, und jetzt fand ich Gelegenheit, die Leute sprechen zu hören, aber sie thaten es mit einer gewissen Schüchternheit, die sich leicht erklärt, wenn man bedenkt, daß der Luserner Dialekt den Umwohnern häufig Gegenstand des Spottes ist. Bei dem Gang durch das Dorf fiel mir die fast gänzliche Abwesenheit der Männer auf, und ich erhielt auf meine hierauf bezügliche Frage die Antwort, daß die Mehrzahl der Männer den Sommer über als Maurer und Straßenarbeiter ihr Brod in der Welt suchen, um im Winter mit ihren Ersparnissen heimzukehren. „In den Armen der Mannen liegt der Reichtum des Landes,“ sagt daher der Luserner. Die Feldarbeit wird von den Frauen besorgt, und von arbeitsfähigen Männern bleiben nur einige Handwerker und wenige andere zurück, die mit dem Vieh und der Bereitung des Käses zu schaffen haben. Ich besuchte die Käserei, welche eine wichtige Erwerbsquelle der armen Gemeinde bildet, und war durch die allenthalben herrschende Reinlichkeit angenehm überrascht.

In der Wohnung des Pfarrers angekommen, wurde ich in die daselbst besinnliche Schulstube geführt, und wenn diese auch nicht in allen Stücken dem in Wien ausgestellten Modell einer österreichischen Zukunftsmusterschule glich, so entsprach sie doch weit mehr als manche andere Dorfschule den Anforderungen, die man an eine solche stellen muß.

Hier, bei einer Tasse Kaffee und einer Cigarre, erhielt ich endlich die gewünschte Auskunft über die Luserner, und es möge das Ergebniß dieser Mittheilungen, ergänzt durch eigene Beobachtung und später gesammelte Notizen, hier Platz finden.

Die Einwohner von Luserna stammen von Deutschen ab, welche wahrscheinlich im dreizehnten Jahrhundert im Trentino und im angrenzenden Gebiete von Verona angesiedelt wurden. Sie rühmen sich nicht, wie die Bewohner der oben erwähnten sieben und dreizehn Gemeinden, daß sie Nachkommen der Cimbern seien, sondern sie leiten ihre Abstammung von einem aus Lavarone gebürtigen Bauern, Namens Nicolaus, ab, der hier oben das erste Haus gebaut habe. Merkwürdiger Weise haben auch fast alle Luserner den Familiennamen Nicolussi, dem man der Unterscheidung halber noch einen zweiten hinzufügt. Ihr Dialekt weicht von dem sogenannten cimbrischen ab, mehr noch von dem, welcher in Deutsch-Tirol gesprochen wird, und gewisse Anzeichen lassen auf eine Verwandtschaft mit dem schwäbischen Dialekt schließen. Am meisten fiel mir eine Anzahl von alten Wörtern auf, die aus dem Neuhochdeutschen und zum Theil selbst aus der conservativeren Volkssprache verschwunden sind, wie zum Beispiel: achel, Tannennadel; kutta, Schwarm (kutta van pain, Bienenschwarm); strel, Kamm; frischum, Widder; ort, Grenze; sof, Fett; hülbe, Pfütze; köden, sagen; mechlen, heirathen; prüste, schwach; lenz, faul, und viele andere. Selbstverständlich ist im Laufe der Jahrhunderte eine Anzahl italienischer Wörter in die Sprache eingeschmuggelt worden, aber der Luserner hat sie sich mundgerecht gemacht. Namentlich Körperteile (korb, Leib; petto, Brust etc.) und Geräthe tragen jetzt wälsche Bezeichnungen. Der Luserner ißt von seiner platte; er räumt die Asche aus dem Ofen mit einer palett und raucht aus einer pipa; statt rauchen sagt er piparn, aber er conjugirt weiter: du piparest, ar piparet, wiar piparen u. s. f. Er zählt nicht, sondern er zontaret; er denkt nicht, sondern er pensaret, und wenn der Bursch nach langer Trennung seine Auserwählte wiedersieht, so fragt er sie: „Amarest du mi no?“ Auch Zusammensetzungen aus beiden Sprachen kommen vor, zum Beispiel gebetliber (Gebetbuch), miserjung (miserabler Junge) und mehrere andere. Dem Einflusse der italienischen Nachbarschaft sind schließlich gewisse Redewendungen und Eigenthümlichkeiten des Satzbaues zuzuschreiben, so wie der Umstand, daß der luserner Sprache der Genitiv mangelt; er wird wie in den romanischen Sprachen durch die Präposition „von“ gebildet.

Rechnet man zu diesen hier nur kurz angedeuteten Eigenthümlichkeiten des Dialektes noch der Luserner Vorliebe für tiefe Vocale, das oa, und ua, das a, welches in den Endungen das stumme e, des Hochdeutschen häufig vertritt, ferner die meist hart ausgesprochenen Consonanten und einen das n in der Endung oft vertretenden Nasenlaut, so wird man es begreiflich finden, daß die Sprache der Luserner wie eine völlig fremde an mein Ohr schlug und daß ich mich jedesmal freute, wenn aus dem Sprachchaos ein Wort herausklang, welches mich daran mahnte, daß ich unter Deutschen sei. So zum Beispiel bezeichnete man meinen Führer, der sich nicht getraute allein nach Lavarone zurückzukehren, als „hasenfuasz“, und das kleine, etwas eigensinnige Töchterchen des Gastwirthes wurde ebenso zur Ruhe gebracht, wie ich vor dreißig Jahren von meiner Wärterin, nämlich mit der Drohung: „Asz kümt dar Wau!“

Ueberhaupt fand ich unter den mir mitgetheilten auf Aberglauben beruhenden Gebräuchen und Sagen so Manches, was mich an meine Landsleute im Norden erinnerte. Den Mondphasen (beiläufig bemerkt haben auch die Luserner ihren Mann im Monde) werden dieselben Einwirkungen auf das Wachsthum der Haare, Nägel etc. zugeschrieben, wie bei uns. Zur Vertreibung der Warzen wendet man die bekannten sympathetischen Mittel an, als Abzählen, Messen u. dgl. Die Schwalbe bringt dem Hause, an dem sie nistet, Glück, wie das vierblättrige Kleeblatt Dem, der es findet. Der Hase, welcher dem Wanderer über den Weg läuft, bedeutet nichts Gutes, und das Käuzchen gilt auch in Luserna als Todesverkünder. Verliert bei mir daheim das Kind einen Milchzahn, so wirft es denselben in ein Mausloch und spricht dazu: „Mäusle, Mäusle, da hast du ein beinernes Zähnle. Gieb mir dafür ein eisernes!“ Dasselbe geschieht auch

* Polenta und frischer Käse.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 845. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_845.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)