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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Regiererei. Auch mit dem Schwärmen um die „große Flamme“, welche am Ende aller Enden doch kein Sonnenfeuer, sondern nur Mondlicht war, blaßleuchtend, aber nicht wärmend. Der Goethe-Genius verlangte wieder einmal sein Recht – das Recht, seine Schwingen zu entfalten und über all‘ das Kleine, Enge, Eckige, Winkelige einer Miniaturstaatsministerschaft sich hinwegzuheben. Egmont, Iphigenie, Tasso und Faust zupften den Schöpfer-Papa, wo er ging und stand, am Rocke, hoben bittende Hände und fragten und klagten: Sollen wir denn unfertig, als Schatten und Schemen, als Krüppel in der Welt herumschwanken? Haben denn nicht auch wir vollen Anspruch darauf, so schönvollendet wie Deine „Göttin“ („Welcher Unsterblichen soll der höchste Preis sein?“) und wie Dein „Fischer“ („Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll“) hinauszutreten in das Leben? Wohl, Kinderchen, den Anspruch habt ihr, gab Papa gütig-beschwichtigend zur Antwort; geduldet euch nur noch ein Weilchen, bis ich die Arme frei habe … Die Arme, ja, und das Herz. Denn mochte der Dichter es sich gestehen oder nicht, auf eine Herzensbefreiung war es mit dem Entschlusse, Weimar und Deutschland für geraume Zeit den Rücken zu wenden, ganz vornehmlich abgesehen. Dann allerdings auch darauf, in Freiheit und Muße wieder einmal aus dem Ganzen und Vollen zu schöpfen und zu schaffen. Er hatte es satt und übersatt, poetische Kurzwaare für höfische Kurzweil zu liefern. Das konnten ja Andere besorgen, die nächsten besten. Ihm aber waren denn doch andere Aufgaben gestellt und höhere Ziele gesteckt.

Zu alledem kam ein tiefes Sehnen nach einem blaueren Himmel und einer milderen Sonne. Der alte Wunsch, Italien zu sehen, zu kennen, zu genießen, war mit neuer Stärke in Wolfgang erwacht, mit einer Stärke, welche ihn dann von jenseits der Berge an Freund Merck schreiben ließ: „Es war hohe Zeit, daß ich mich auf den Weg machte; ich wäre vor Sehnsucht vergangen“. Jahrelang schon hatte er diese Sehnsucht in sich gehegt und gepflegt und mitunter war sie ihm übermäßig in der Brust aufgequollen. So im Jahre 1782, wo er sie seinem wundersamen Zwielichtskinde Mignon als ein Lied voll innigster Herzenslaute auf die Lippen gelegt hatte. („Kennst du das Land?“). Jetzt war kein Halten mehr: es trieb ihn über die Alpen.

Am 24. Juli von 1786 ging er zur Kur nach Karlsbad, entschlossen, von dort aus das Weite zu suchen. Nur dem Herzoge, der ihm ja Urlaub zu gewähren hatte, anvertraute er sein Vorhaben. Der „großen Flamme“ scheint er allem nach nur eine ganz allgemeine Andeutung gegeben zu haben. Es gefiel seinem Hange zur Geheimnisserei, sich so zu sagen „wegzustehlen“, wie er denn auch „incognito“ reis’te, unter dem Namen Möller, als wolle er nicht allein den Geheimrath, sondern auch den Goethe diesseits der Berge zurücklassen. Am 3. September – unterrichtet er uns – „früh drei Uhr warf ich mich, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise und stahl mich aus Karlsbad.“ Durch Böhmen, Baiern und Tirol fuhr er so rasch, als die damaligen Verkehrsmittel es gestatteten. Am Morgen des 9. Septembers ging es die Südseite des Brennerpasses hinab: Italiam! Italiam! „Kennst du es wohl? Dahin! Dahin!“




Eine deutsche Sprachinsel in Wälschtirol.


Der Zufall oder das Schicksal führte mich im vergangenen Sommer nach Levico, einem kleinen, nahe bei Trient in Wälschtirol gelegenen Badeorte, und Verhältnisse, deren Erörterung nicht hierher gehört, bestimmten mich, daselbst mein Standquartier aufzuschlagen.

Glücklicher Weise bedurfte ich weder der eisenhaltigen Quelle, noch der Gesellschaft der langweiligen und gelangweilten Curgäste und konnte somit meine Aufmerksamkeit den Naturschönheiten der Umgebung zuwenden, den zerklüfteten, zum Theil mit Schnee gekrönten Bergen, den mit Wein, Maulbeer- und Obstbäumen bepflanzten Niederungen und den beiden Seen, welche Tags über wie Ultramarin, Abends im Strahl der sinkenden Junisonne wie flüssiges Gold gefärbt waren.

Es war an einem solchen Abend, als ich, von einer kleinen Gebirgswanderung zurückkehrend, eine gegen das rechte Ufer der Brenta steil abfallende Wand hinabkletterte. Der Fluß, welcher in seinem Mittel- und Unterlaufe ein ganz achtbarer Bursche ist, ist hier soeben erst aus dem See von Caldonazzo hervorgekommen und eilt über die weißen Kiesel seines Bettes, an dessen Rändern sich Alpenweiden, Rhododendronbüsche und andere Auswanderer des Hochgebirges angesiedelt haben. Die untergehende Sonne und mein Durst riefen mir die Worte des Dichters in’s Gedächtniß:

„Jedem Guten ist’s gegonnen,
Wenn des Abends sinkt die Sonnen,
Daß er in sich geht und denkt,
Wo man einen Guten schenkt.“

Aber ach, bis zu der rebenumsponnenen Laube des braven Signor Vicenzi, meines damaligen Wirthes in Levico, war es noch weit, sehr weit, und Brenta-Wasser – brrr! Meiner Standhaftigkeit sollte die Belohnung auf dem Fuße nachkommen. Nach einigen hundert Schritten, die ich, den Krümmungen des Flusses folgend, zurückgelegt hatte, sah ich unter mir eine Baumgruppe und ein Ziegeldach. Wo menschliche Wohnungen sind, giebt es gewöhnlich etwas zu trinken, und so auch hier. Noch zehn Minuten, und ich rastete auf einem breiten Steine, neben welchem ein kunstlos gefaßtes Brünnlein silberklar aus dem Felsen sprang. Es kam aber noch besser.

Eben als ich mich niederbückte, um zu trinken, schimmerten helle Frauengewänder durch das Grün, und wenige Augenblicke später setzte ein schlankes, schwarzlockiges Mädchen die zwei kupfernen Wassergefäße, die sie nach Landesgebrauch an einem schwanken Holze über die Schulter getragen hatte, vor mir und dem Brunnen nieder.

„Es ist heiß heute,“ begann ich, wie ich es noch von der Tanzstunde her gewohnt bin, die Unterhaltung.

„Sehr heiß, Signor.“

„Giebt’s hier in der Nähe keine Osteria oder so was dergleichen?“

„Nein, Signor.“

„Was ist das da unten für ein Haus?“

„Das Haus meines Vaters.“

„Ei, mia cara, könnte man da vielleicht für Geld und gute Worte etwas Anderes als Wasser zu trinken bekommen?“

„Wir haben Wein; aber ich weiß nicht, ob mein Vater welchen hergeben wird.“

„Wir wollen’s versuchen.“

Ich half ihr galant beim Wasserschöpfen und folgte ihr dann auf dem Fuße nach.

„Ein Kernmädel!“ sprach ich im Gehen zu mir selbst, und natürlich sprach ich’s deutsch, während ich mich vorher der italienischen Sprache bedient hatte.

Da dreht sich der Schwarzkopf halb nach mir um, zeigt zwei Reihen Mauszähne und fragt auf Deutsch: „Ist der Herr etwa gar ein Deutscher?“

„O Du Engel! Das versteht sich, und Du bist auch eine Deutsche?“

„Nur zur Halbscheid. Aber der Vater wird sich freuen, daß er einen deutschen Besuch bekommt.“

Wir langten bei dem Häuschen an. Der Vater, ein ziemlich bejahrter Mann, hieß mich sehr freundlich willkommen und gab seiner Marietta den Auftrag, Wein, Brod und Käse zu bringen. Der Wein war trinkbar, das Essen gut, und mein Wirth, dem ich sofort die Friedenspfeife in Gestalt einer Virginiacigarre überreicht hatte, war äußerst zuvorkommend und gesprächig.

„Ich bin Maurer,“ erzählte er, „das heißt, ich richte hier den Leuten Sparherde ein. Es hat Mühe gekostet, den Wälschen begreiflich zu machen, daß ihre alten, offenen Herdfeuer nichts taugen. Erstens nämlich verbrennen sie zu viel Holz, und zweitens schmecken die Speisen manchmal nach Rauch.“

„Sehr richtig! Sie scheinen mir ein einsichtsvoller Mann zu sein. Sind Sie in Deutschtirol daheim?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_843.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)