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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

wirkte so erschütternd auf Martha, daß sie auf die Stufe der Wendeltreppe, wo sie stand, sich niederkauerte und unter rinnenden Thränen und in höchst kläglicher Weise das allbekannte Kirchenlied anstimmte. „Ach, bleib’ mit Deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ“. Die Lene kam aus der Küche herbei. Ein einziger Blick in die offen gebliebene leere Stube deutete ihr an, was geschehen, und aus vollem Herzen stimmte sie in den ohrenzerreißenden Klagegesang ihrer Cameradin mit ein: „Daß uns hinfort nicht schade des bösen Feindes List.“

Die nach dem Palais Escortirten hörten nichts davon. Man hatte sie in eines der Zimmer eintreten lassen, und der Corporal hatte Einen seiner Mannschaft an die Thür gestellt. Fräulein Doris, die sich für überzeugt hielt, daß ihre Arretur mit dem Schicksale ihres Bruders in engstem Zusammenhange stehe, saß leichenbleich auf einem Stuhl, nur beschäftigt mit den trüben ängstigenden Bildern dessen, was über Willi kommen werde. Daß man ihn für einen Spion halten mußte, daran ließ sich gar nicht zweifeln. Wie hätte es denn glaubwürdig erscheinen können, daß es nur einer seiner tollen Streiche war, der ihn hierher getrieben! Und gar der Conflict mit dem Hauptmann von Köpping und der Verrath, daß er hier, gleichsam dem Könige zum Trotz, einen Versteck gefunden! Das war ja so schwer gravirend für ihn, daß auch nicht eine einzige Hoffnung übrig blieb, welche wenigstens den auf ihm ruhenden Verdacht der Spionierie oder, was noch schlimmer war, der geheimen Agentschaft eines im Stillen gegen die Sicherheit der Person des Königs geschmiedeten Complots von ihm nahm. Die Frau Castellanin dagegen hielt eine Hoffnung fest, die plötzlich gleich einer Leuchte in dunkler Nacht vor ihr aufblitzte. Sie ging an die Thür, öffnete sie und fragte den wachthabenden Soldaten, ob er Mosje Fritz, den Berliner Flautusenvirtuos kenne, der hier auf Besuch beim Könige sei? Was der Gefragte in seinem plattdeutschen Dialect antwortete, verstand sie nicht, und bei nochmaliger Frage sah sie sich gezwungen, schnell die Thür zu schließen, um sich der Grobheit des Kerls zu entziehen, der sie so flämisch anstierte, daß sie in Angst gerieth. Herr Nehemia Drill hatte auch sein Partikel Furcht, die ihn schwer bedrückte. Wenn durch irgend ein unseliges Verplappern der Frau Castellanin sein erbärmlicher Witz von der „Berliner Amsel“ zur Rede kam, was dann? Der Mann mit den strammen Schenkeln fühlte ein leises Beben durch sein Gebein gehen; er betrachtete mit tiefer Wehmuth einen auf dem Fenstersimse lustig hinhüpfenden Sperling und wünschte mit ihm tauschen zu können. Vergeblicher Wunsch! Wie glücklich doch ein mit Flügeln ausgerüsteter Sperling gegen einen unter der Aufsicht eines Wachtpostens stehenden gräflich Mosczynskischen Heiducken sein konnte! Diese Ueberzeugung war sehr niederschlagend für Herrn Nehemia. – –

Der König hatte das Bureau verlassen, in welchem seine Räthe die von ihm gegebenen Ordres zu den nach Berlin abzusendenden Depeschen ausarbeiteten, und befand sich, von seinen Windspielen umgeben, in seinem Wohnzimmer, in das auf seinen Befehl Major von Wangenheim eintrat.

„Er hat mir eine kurze, wahrheitsgetreue Erklärung beziehentlich des Duells zu geben, das Er wegen einer jungen sächsischen Dame mit dem Köpping gehabt hat,“ sagte der Monarch zu ihm. „Die Sache, die man vor mir damals vertuscht hat, ist zwar vergessen und will ich sie nicht weiter in Anregung bringen; aber die Ursache dieses Vorganges will ich von Ihm hören.“

„Majestät, ich bitte unterthänigst …“

„Ennuyire Er mich nicht lange mit Excusaden! Meine Zeit ist kurz … Rücke Er sofort der Sache auf den Leib!“

Diesem Befehle mußte Folge geleistet werden, und der Major gab die Schilderung jenes Duells mit möglichster Knappheit, was aber nicht verhinderte, daß er, ohne vielleicht sich dessen selbst bewußt zu sein, bei Erwähnung der jungen Dame sehr lebhaft wurde und eine helle Röthe sein Gesicht überfloß.

„Hat der Bruder der jungen Dame den Köpping etwa spöttisch haranguirt?“

„Nein, Majestät!“

„So? … Nun, promenire Er einstweilen im Saale, bis ich Ihn rufen lasse!“

Nachdem der Major sich aus dem Zimmer entfernt hatte, durchschritt es der König mehrere Male, von seinen Windspielen umsprungen. Ein Klopfen an die Thür unterbrach sein Aufundniedergehen. Generalmajor und Stadtkommandant von Wylich wurde gemeldet und brachte dem Monarchen die Anzeige des Vollzugs seines den Hauptmann von Köpping betreffenden Arrestbefehls.

„Gut, gut!“ sagte der König. „Der Köpping ist ein elender Raisonneur, eine Schande für meine Officiere, wenn sie mit ihm dienen sollten … kann keinen geohrfeigten Officier brauchen. Das Protokoll über ihn soll mir zugeschickt werden, will’s lesen. Ueberhaupt gestatte ich es Keinem, ein großes Schimpfmaul gegen den König von Polen und seine königliche Familie aufzureißen oder die sächsischen Leute mit schlechten Namen zu belegen. Der Krieg ist ein Unglück, und dies muß man nicht noch durch Gemeinheiten vermehren. Halte der Herr darauf! à revoir!“ Auf ein vom Könige nach Entfernung des Generalmajors gegebenes Klingelzeichen trat sein Kammerdiener ein, reichte ihm Hut, Handschuhe und Krückstock und schritt, die Thür öffnend, ihm dann in jenes Gemach voran, in welchem sich Fräulein Doris, die Castellanin und Nehemia Drill in banger Erwartung des sie treffenden Bedrängnisses befanden.

„Seine Majestat der König!“ meldete der Kammerdiener und zog sich dann, als der Monarch eingetreten, in das andere Gemach zurück.

Ganz leise, wie in der Ferne verhallendes Flüstern, waren ein paar Worte in der tiefen Stille vernehmbar, die nur eben der König verstand, während sie von Fräulein Doris und Herrn Nehemia ganz unbeachtet blieben.

„Der Herr Fritz!“ hauchte die Frau Castellanin, in ihrem tiefunterthänigsten Knixe fast zusammensinkend vor schreckhafter Ueberraschung.

„Wer ist Er?“ fragte der König mit dem Stocke auf Herrn Nehemia deutend.

„Unterthänigst, mein Name ist Drill … Nehemia Drill … und bin Heiduck der Frau Gräfin Mosczynska.“

„Heiduck? Gebürtig … woher?“

„Aus Pomßen bei Grimma, Majestät unterthänigst aufzuwarten.“

So ernst der König auch für gewöhnlich war, so schien doch die Namensnennung der Geburtsstätte des würdigen Nehemia einen Lachreiz bei ihm anzuregen, so daß er, um denselben zu bemeistern, mit dem Gesichte eine Wendung nach der Seite machte, als wollte er sich nach seinen Hunden umsehen, die sich sehr ehrbar neben ihm niedergesetzt hatten.

„Ein nachgemachter also? Als Grenadier würde Er ein rentablerer Kerl sein.“

Herr Nehemia, der sich auf seine stattliche Figur sonst nicht wenig einbildete, wäre in diesem Moment gern zusammengeschrumpft, denn das Wort „Grenadier“ in des Königs Munde machte auf ihn denselben athembeklemmenden Eindruck wie ein eiskaltes Sturzbad; er überwand indeß allmählich diesen außerordentlichen Schreck, da Seine Majestat keine Notiz weiter von ihm nahm.

„Sie ist das Fräulein von Liebenau, deren Bruder in geheimen Geschäften hier verkehrt hat und von einer Patrouille beim Uebersteigen der Mauer dieses Grundstückes ergriffen worden ist,“ hob der König an.

Der Blick seiner schönen großen Augen traf mit dem ihrigen zusammen und bewirke einen Aufschwung ihres so sehr eingeschüchterten Muthes, der ihr bisher nicht erlaubt hatte, ihn mehr als flüchtig anzusehen, als er in das Gemach trat. Mit merkbar zagendem Tone fragte sie: „Gestatten Eure Majestät allergnädigst, daß ich sprechen darf?“

„Thue Sie das!“

„Majestät, der Schein ist gegen meinen Bruder; es ist nicht anders zu sagen. Willi ist ein Tollkopf; aber er ist frei von dem Makel der Spionerie, eine so ehrliche aufrichtige Seele, wie eine solche wohl je eine Jagduniform getragen hat, deren Grün ja die Farbe des Aufrichtigsten ist, was wir haben, der ewig wahren, unverfälschten Natur. Willi’s geheime Geschäfte bestanden nur in dem Wunsche, seine Geliebte, das Fräulein Karoline von Vitzthum, zu sehen und zu sprechen. Es war ein toller Gedanke, die Vorpostenkette Eurer Majestät zu durchbrechen; er führte ihn aus, weil er von unserm königlichen Herrn nicht die Erlaubniß zu einem Ritte hierher erhalten haben würde.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_837.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)