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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Schwer und kalt sank die Liebe in ihm nieder und regte sich nicht mehr. Nachdem er den Reif, der ihm Glück und Zukunft bedeutet, vom Finger gezogen und Dora zurückgesandt hatte, kam ein seltsames Stillsein über ihn; ihm war, als habe er mit den Pfändern der verrathenen Liebe auch die Erinnerung daran von sich abgethan. Das Idol seines Herzens zeigte sich als ein Phantom – Die, welche ihn fallen ließ, welche der Treue nicht fähig war, Diese kannte er nicht. Das heilige Feuer, welches sie muthwillig verlöscht hatte, war nur noch todte Asche – kein Funke übrig, woran sich auch nur der Schmerz hätte entzünden können.

Und doch trug er sein schweres Geschick stumm und klaglos; denn selbst diese wühlenden Schmerzen vermochten nicht, sein innerstes Leben zu wandeln, das auf Säulen von Granit stand. Mit festem Sinne sah er dem Unabänderlichen in’s Antlitz, und entrangen sich in einfachen Nächten seinem Auge auch oft genug feurige Thränen, so glichen sie den Tropfen, die sich in unterirdischen Gründen langsam zur Säule gestalten – sie formten und härteten sich zum neuen Pfeiler des inneren Tempels.

Ernst begriff, daß es unmöglich ist, Momente aus dem Leben zu streichen, die unvergeßlich sind, und daß es für ihn keine Heilung gab als durch die Zeit. Was ihm nächst seiner Liebe stets das Steuer des Lebens gewesen, Hingabe an geistige Arbeit, ward nun zugleich sein Anker. Er wurde sich einer Kraft bewußt, die ihn nicht am Erlebten scheitern ließ. Wohl hatte er Schiffbruch erlitten an Glück und Glauben, an Allem, was er als Wurzel seines Daseins betrachtet; doch fühlte er sich entschlossen, nicht auf diesem Wrack zu Grunde zu gehen, sondern mit männlicher Kraft den rettenden Hafen zu erreichen. Nicht umsonst! Zu den Dingen, welche sich der Mensch mit vollem Aufgebot seines Willens geben kann, gehört Ruhe – in ihrem stillen Schatten kühlt sich die brennendste Wunde. Auch Wernick’s Beruf war geschaffen, ihn vor Vernichtung zu wahren. Ein Lehrer der Jugend! Selbst jugendlich begeistert für seine Aufgabe, täglich neu erfrischt im Tausche lebendiger Gedanken, fühlte er sich tief eingewurzelt in Gegenwart und Zukunft und schöpfte aus dem großen Athemzuge der Weltgeschichte eigenen Odem.

Wohl kamen Stunden, und sie kamen nicht selten, wo Schmerz und Sehnsucht plötzlich auf ihn niederschossen wie ein Geier, der an seinem innersten Leben fraß. Es giebt unter allem Erdenweh kaum Jammervolleres, als wenn ein vollempfundenes, reines Glück von derselben Hand zerstört wird, die es gereicht. Da ist ja Alles hin, nicht die Zukunft nur, auch die Vergangenheit, jede Erinnerung gleichsam erwürgt, jede Gabe, die voll Wonne an’s Herz gedrückt worden, plötzlich verschwunden wie Hexengold. Stieg Dora’s Bild vor ihm auf, umgeben von hundert trauten Scenen – was war es ihm jetzt? Wo er sein Alles eingesetzt, war ihm nichts geworden, nichts geblieben; sie hatte sich aus ihrem Gefühl ein Gedicht gemacht; die Strophe, welche sie ihm gesungen, klang so süß, die nächste Strophe, die ein Anderer vernahm, vielleicht süßer noch! Vorüber – vorüber! –

Als Ernst erfuhr, was Thea betroffen, fühlte er sich bereits so ganz von ihr abgelöst, daß keine selbstische Bitterkeit die Schwermuth entstellte, womit er ihr Geschick betrachtete. Dieses Leben war ja verloren, so wie so!

Zum ersten Mal wieder sprach er mit Robert, der ihm die Kunde gebracht, über Dora und erfuhr betroffen, mit welcher unversöhnlichen Härte sein junger Freund die Schwester beurtheilte. Ihr tragisches Geschick vermochte des Jünglings abgewandtes Herz nicht milder zu stimmen; er nannte es ein Gottesurtheil, und äußerte sich um so schärfer, je maßvoller Wernick ihm erschien. Wie durch schweigendes Uebereinkommen erwähnten Beide nach dieser Stunde Dora’s nie wieder. Robert hing fester als je an seinem Freunde und Meister, dem er einen förmlichen Cultus widmete. Es war, als wollte er ihm stündlich Alles abbitten und vergelten, was dem Geliebten von den Seinen angethan worden, als müßte er durch ihn auch sich ersetzen, was er selbst verloren. Denn seitdem sich Robert von der Schwester losgesagt, hatte er eine Empfindung von Kälte auch seiner Mutter gegenüber nicht überwinden können. Ihre Zustimmung zu Dora’s Treubruch, ihre Ueberzeugung, damit kein Unrecht gefördert, sondern im Gegentheil beiden Verlobten eine unbefriedigende Zukunft erspart zu haben, eine Ueberzeugung, die so fest stand, daß sie es nicht gescheut, sie gegen Wernick selbst zu vertreten, empörten ihn und störten ihn so sehr in der bisherigen kindlichen Verehrung, daß es einer Aufstachelung seines vollen Pflichtgefühls bedurfte, um diese Stimmung nicht laut werden zu lassen. Kein Bitten und Zureden vermochte den jungen Mann dazu, über die geringe Summe hinaus, welche ihm aus der Hinterlassenschaft des Vaters zustand, fernere Unterstützung für seine Universitätsjahre anzunehmen. Was die Seinen jetzt besaßen, kam von Dora, der er Nichts mehr zu danken haben wollte. Er lebte wie ein Stoiker, hielt sein kleines Erbtheil auf’s Aeußerste zu Rathe und gab Stunden, um sich eine selbstständige Existenz zu ermöglichen, während er von Ernst ohne Bedenken die Erleichterung annahm, welche das fortdauernde Zusammenleben Beider ihm gewährte.

Etwa zwei Jahre nach den in ihrem raschen Gange geschilderten Erlebnissen erhielt Wernick, der sich als Privatdocent durch mündliche und schriftliche Vorträge bereits einen geschätzten Namen erworben, den ehrenvollen Ruf als Professor der Geschichte nach einer süddeutschen Universität. Dies gebot den Freunden Trennung nach jahrelangem traulichem Zusammenhausen. Robert’s Studienzeit war nahezu beendet, und seine Aussichten auf künftige Lebensstellung fesselten ihn an die Heimath.

Ernst erreichte viel, da er zu den seltenen Geistern gehörte, deren Grenzen sich erweitern, indem sie vorwärts schreiten. Erfüllt von seiner Wissenschaft, geschätzt und aufgesucht von Allen, die je mit ihm in Berührung traten, empfand er das Leben inhaltsreich. Und doch gab es in seinem tiefsten Innern eine Lücke, die Nichts zu füllen vermochte, jene Leere, die Jeder in sich birgt, der es nicht wagen mag, an die Vergangenheit zu denken. Vergangenheit! Ein Traum, ein Nichts – und doch das einzige Erdengut, das immer reicher wird, je mehr man davon zehrt, das über Gegenwart und Zukunft verklärende Lichter ausgießt und in den dunklen Tag herüberleuchtet als schattenloses Eden. Ein großer Dichter nannte Erinnerung das Paradies, aus dem Keiner vertrieben werden könnte, hier aber irrte der Prophet. Tausende wandeln auf Erden, denen Vergangenheit jenes verschleierte Bild ist, das zu schauen den Tod giebt.

Jahre waren verklungen, mit ihnen die Jugend, und noch immer zuckte die alte Wunde bei der leisesten Berührung. Mehr als einmal hatte Wernick den Gedanken erfaßt, sich ein Familienleben zu gründen, dennoch war er mit dreißig Jahren noch derselbe einsame Mann. Gerade dann, wenn irgend ein holdes, liebes Bild ihn mit verheißungsvollen Augen ansah, stieg die Gestalt der Verlorenen, Gemiedenen zauberisch vor ihm auf, und Alles, was er sich noch eben erträumt, zerfloß vor ihr in Nebel. Dann wandte er sich zurück zu all der Jugend, welche ihn als ihrem Meister umgab, und fühlte es wieder in sich tagen: „Hier ist deine Zukunft, deine Familie“.



14.

Nicht selten hatte Ernst die Möglichkeit eines Wiederbegegnens mit Dora in’s Auge gefaßt. Er wußte durch Robert, daß sie noch dem Mattern’schen Hause angehörte, und leicht konnte es geschehen, daß ein Zufall sie während einer seiner alljährlichen Ferienreisen auf seinen Weg führte. Doch stand er diesem Gedanken ohne Unruhe; solches Wiedersehen konnte immer nur das flüchtigste Begegnen sein. Was aber der Geschichtsforscher längst als die großartige Poesie alles Völkerlebens anerkannt: daß ein Namenloses existirt, welches sich in alles Berechnete mischt und es wunderbar umgestaltet, zerrissene Fäden wieder aneinander knüpft, überwundene Katastrophen neugeboren aus Trümmern emportauchen läßt – das sollte ihm zur persönlichen Erfahrung werden. Er war völlig darauf gefaßt, das Ideal seiner Jugend unverhofft vor sich zu sehen, Angesicht gegen Angesicht. Statt dessen blickten ihn eines Tages die stummen Augen ihres Bildes an und erschütterten ihn bis zum Grunde der Seele. Als er im befreundeten Künstlerhause plötzlich die Züge wiederschaute, so vertraut und doch so verwandelt, als eine fremde Stimme von ihr erzählte und sie ein Bild ohne Gnade nannte, das wie eine Statue durch das Leben wandle, sonder Freud’ noch Leid – da ergriff ihn alte Liebe und tiefstes Erbarmen so gewaltsam, daß all seine Manneskraft dazu gehörte, fremden Augen den Sturm zu verbergen, welcher in ihm brauste.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_832.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)