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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Er ging und ließ Thea in einem Zustande zurück, der die Gefühle gleichsam zu thurmhohen Wogen aufwirbelte, gähnende Klüfte öffnete, wie ein Orcan. Eine Art von Ekel ergriff sie der ganzen Auffassung gegenüber, die ihr Pflegevater eben vor ihr entwickelt, und doch war etwas da, was ihm Recht gab. Es trieb sie vorwärts, gleich einem Wirbelwinde – nur hinaus aus der zerstörten Vergangenheit, nur fort aus Allem, was bisher ihr Leben ausgemacht. Nirgends mehr eine Stelle, wo sich rasten ließ. Wo war noch Heil? Eine Treue festhalten, die bereits gebrochen war? Wirklich in die Enge hinein, die ihr eben gezeichnet worden, in Armuth und Entbehrung hinein, und dabei das himmelsreine Gewölbe ewiger Liebe nicht mehr über sich, welches die Hütte zum Tempel umschafft? Oder, um sich selbst getreu zu bleiben, auf den Einen verzichten wie auf den Andern? Und was dann? Sollte sie so weiterleben im Hause des Grafen, kaum geduldet von seinem Weibe, für ihn selbst, nach solchem Erlebniß, sicher kein befriedigendes Spielzeug mehr, der Welt, in welcher sie lebte, eine bunte wurzellose Pflanze, die man beschaut um dann kalt weiter zu gehen? Oder sollte sie sich heim begeben zu den Ihrigen, die Sorgen der Mutter zu vermehren, nachdem sie ihre Hoffnungen getäuscht – oder hinaus unter Fremde, ihr Brod erwerben, heimathlos und rechtlos von Haus zu Hause wandern, sich beugen und fügen? – Nimmermehr! – Gleich einem Leuchtthurme über stürmischer Brandung erhob sich vor ihr die Gestalt des Mannes, der ihr allein noch geben konnte, was sie bedurfte, um weiterzuleben – neue Zukunft.

Sie schloß sich ein und begann, an Ernst zu schreiben. In fliegender Hast reihte sich Wort an Wort, das ihm absagte für alle Zeit. Während sie schrieb, stieg sein Bild vor ihr auf, wie sie es einst geschaut – während sie schrieb, lebte sie den ewig unvergeßlichen Moment auf der Adlerklippe noch einmal durch, wo sie sich ihm zu eigen gegeben. Mit furchtbarer Heftigkeit drang auf einmal die alte Liebe wieder in ihr Herz, und doch brachte sie den Brief zu Ende. Indem sie den ganzen Werth Dessen empfand, den sie aufgab, folterte sie das Bewußtsein eigenen Unwerthes bis zur Vernichtung – nichts mehr durfte er mit ihr gemein haben. Ihr Brief war keine Beichte; Stephan’s Name wurde nicht genannt. Sie erbat nur ihr Wort zurück, weil sie erkannt, daß sie nicht die Kraft besitze, demselben bis an’s Ende getreu zu bleiben. Das war Alles. Dann zog sie langsam den schlichten Reif mit dem kleinen Sapphir vom Finger, legte ihn zwischen das Blatt und siegelte den Brief. Ihr Klingeln berief den Jäger, dem sie befahl, die Posttasche zu bringen, wozu jedes Familienglied einen eigenen Schlüssel besaß. Thea versenke das Couvert in die Tasche und schloß sie wieder zu. Der leise Ton, mit dem die Feder einsprang, sollte sie verfolgen durch Tage und Nächte, lange, endlos lange Jahre hindurch.

Tage und Nächte schlichen dahin; dann kam Antwort. Ein Paket. Als Thea auf der Aufschrift die Hand erblickte, deren Züge sie Jahre hindurch mit seliger Freude begrüßt, ward ihr zu Muthe, als gälte es den Tod. Sie hatte während dieser Zeit ihr Zimmer nicht verlassen, Niemand empfangen, auch Mattern nicht, nur wenige Silben mit ihrer Dienerin gewechselt, und in stumpfem Brüten nur so hingewartet. Jetzt lag das Erwartete in ihren Händen. Ihr Herzschlag stockte, als sie das Siegel gelöst. Aus der geöffneten Hülle fielen zwei Päckchen. Das eine enthielt alle Briefe, jedes Zettelchen, welches sie je an Ernst geschrieben; ein paar kleine Stickereien lagen dazwischen. Das zweite umschloß einen Brief. Zitternd entfaltete sie den Bogen – es war ihr eigener Scheidebrief, aus welchem ihr eine Locke ihres Haares und ein goldener Ring entgegenfiel, in dessen innerer Fläche ihr Name gravirt war.

Keine Zeile seiner Hand lag bei.




10.

Gegen Abend desselben Tages verließ Thea ihr Zimmer, um verstohlen die Hintertreppe hinabzuschlüpfen, welche in den Hof und von dort durch ein Seitenpförtchen in den Park führte. Ein dunkler Drang trieb sie nach dem Teiche, von dem sie vor wenigen Tagen so fassungslos entflohen war. Sie wußte die Schloßgesellschaft noch bei Tafel und fand die Gänge sowohl wie den Platz, welchen sie aufsuchte, ganz so einsam, wie sie erwartet. Entschlossen, Stephan heute noch wiederzusehen, wollte sie zuvor sein Bild lebendig in ihre Erinnerung heraufbeschwören. Eine wilde Sehnsucht faßte sie, glücklich zu sein – sie verlangte nach Stephan’s sanftfeurigem Blicke, sie verlangte nach der Stimme, die ihr stets wie ein Echo des eigenen Denkens geklungen, um einen andern Blick, eine andere Stimme zu übertäuben, welche sie unablässig verfolgten. Ihr Auge irrte über das Wasser hin. Sie suchte den Stamm, an welchen sie sich an jenem verhängnißvollen Abende gelehnt und nach den Sternen geschaut, und schlang den Arm um die schwanke Birke, als müßte sie etwas fassen und halten.

Als hätten ihre Gedanken Macht besessen, Stephan zu rufen, stand er unerwartet neben ihr. Sein wachsamer Blick hatte einen Schimmer ihrer Gestalt erspäht, als sie im Bereiche der Fenster des Speisesaales vorübergegangen. Er sprach zu ihr, und sie trank jeden Laut ein wie berauschende Musik. Sein Arm umfing sie; sein Mund berührte ihre Augen, ihre Lippen; sie duldete Alles und schmiegte sich an seine Brust wie ein Vogel in’s bergende Nest, doch kam kein Ton über ihre Lippen. Bis dem Glücklichen die stumme Hingabe nicht mehr genügte, war mancher Augenblick vergangen – zuletzt kam doch das flehende Wort: „Sprich es aus, daß Du mein bist!“

Thea löste sich aus seinen Armen. Ihre Hand wurde kalt in der seinigen. „Erst muß ich Anderes aussprechen,“ sagte sie mit fliegendem Athem. „Ob ich die Ihrige sein kann, Stephan, haben Sie noch zu entscheiden. Ein Bekenntniß bleibt übrig, das Sie vielleicht auf jeden Wunsch verzichten läßt –“

„Thea!“

„Sie wissen nichts von mir. Sie kennen mich nicht, und wollen mich hinnehmen auf Treu und Glauben? Treu und Glaube ist aber gerade Das, was ich am wenigsten verdiene; denn einmal schon habe ich Treue gelobt und – gebrochen.“

Stephan erblaßte, doch trat in seine milden Augen kein veränderter Blick. Er ließ Thea mit leiser Bewegung auf die Moosbank niedergleiten, blieb vor ihr stehen und sah zu ihr nieder, wie zu einem büßenden Kinde. „Sie wollen mir Wahrheit geben, Das allein hebt jeden Vorwurf auf.“

„Wahrheit Ihnen geben, Wahrheit dann von Ihnen fordern, ob mir gleich ahnt, daß sie uns für immer trennt. So hören Sie denn, Stephan: ich war verlobt – seit Jahren – mit einem Manne, dessen Werth ich heute höher anerkenne als je zuvor, der mir nie den leisesten Zweifel an seiner Liebe gegeben. Und doch habe ich ihm Wort und Treue gebrochen.“

„Um meinetwillen, Thea?“

„Ja.“

„Um meinetwillen! Und sind Sie an ihn gebunden, noch jetzt gebunden?“

„Er gab mich frei, wie ich es von ihm gefordert. Frei von Wort und Gelöbniß, nicht frei von der inneren Schuld, deren Gewicht mich Ihnen gegenüber schwerer drückt, als selbst vor ihm. Können Sie mich noch lieben, mir noch vertrauen, nachdem Sie erfahren, wessen das Herz fähig ist, das Sie zu eigen verlangt? Ich weiß es nicht – ich glaube es nicht –“

Ihre Augen hoben sich düster zu ihm empor. Sie begegneten einem Ausdruck so tiefer Liebe, daß alle dunkeln Geister davor wichen. Er zog sie heftig an seine Brust, und sagte mit strömender Innigkeit: „Ich sollte von Dir lassen, weil Du menschlich geirrt und gelitten? Welches Leben wäre ganz frei von Schuld gegen ein anderes Leben – auch das meine nicht, Thea! Was Dir geschehen, ehe wir uns begegnet, geht mein Herz nichts an. Ich liebe, was Du bist, nicht was Du warst. Sei mein und blicke nicht zurück, denn ich will Dich vorwärts führen – in die Zukunft, zum Glücke.“

„Dann nimm mich hin mit Allem, was ich bin und habe!“ rief Thea glühend. „Nichts will ich mehr wissen und kennen als Dich auf der weiten Welt. Nimm heute noch meine volle Beichte hin! Dann soll die Vergangenheit, wie Du es forderst, versunken und vergessen sein.“

„Laß sie jetzt schon versunken bleiben, Geliebte!“ sagte er sanft, „ich erbitte von Dir nur Schweigen. Nicht den Namen Dessen, der vor mir Dein Wort besessen hat, kein Wann und Warum will ich kennen. Was Du mir gesagt, genügt. Konnte mir Dein Herz schlagen, so hat es ihm ja doch nie gehört. Ein verwehter Jugendtraum war keine Liebe.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_816.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)