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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


empor, das sich über sie beugte, und verschwand ohne eine Silbe, einen Laut.

Wie sie ihr Zimmer erreicht, wußte sie nicht. Wie lange sie auf den Knieen gelegen, das Angesicht in die Polster des Stuhles gedrückt, vor welchem sie sich niedergeworfen, wußte sie nicht. Als sie aus dem Wirbel tobender Empfindungen zum Besinnen auffuhr, war es tiefe Nacht um sie her. Sie strich sich die Haare aus den Schläfen, wie eine Traumwandlerin, stand einen Moment regungslos, fachte dann Licht an und trat ungestüm an ihr Schreibpult, das sie erschloß, um aus einem der Fächer ein Bild hervorzunehmen. Ihre Augen hingen an den Zügen des Mannes, dem sie Treue gelobt, so durstig, als wollten sie jede Linie in sich trinken, bis sie plötzlich die Hand mit dem Bilde wie leblos sinken ließ.

Sie empfand in sich eine Möglichkeit, an welche sie nie gedacht – die Möglichkeit neuer Liebe. Die Farben dieses Bildes standen erblaßt in ihrem Herzen, ein anderes war da, war näher, nahm ihr Sein und Denken so gefangen, daß für den Fernen nichts übrig blieb, als ein dumpfes Wehgefühl. Sie schauderte vor sich selbst. Mit fliegender Hand riß sie ein Paket Briefe an sich, löste das Band und streute die engbeschriebenen Blätter vor sich hin; ihr Auge irrte von einer Seite auf die andere. Bilder der Vergangenheit stiegen aus den Zeilen auf, waren um sie ausgestreut, gleich den weißen Bogen – Alles kalt und farblos. Sie blickte auf das Gewesene, wie ein Gestorbener auf sein Leben zurückblicken mag – es war todt, es war kein Leben mehr. Nur die Widersprüche zwischen ihrem stürmenden Temperamente und diesem fest in sich geschlossenen Charakter, nur diese traten lebendig vor sie hin. Und wo ihr Auge auf Liebesworte traf, da tönte eine andere Stimme auf und fragte drängend: „Kannst Du mich lieben?“ Die Sterne zuckten vor ihren geschlossenen Augen, und der Duft des Jasmins drang auf sie ein, ein Hauch der Leidenschaft. So ging die Nacht hin.

Am Morgen ließ Thea ihr Nichterscheinen durch Unwohlsein entschuldigen, empfing aber Graf Hugo, der wiederholt nach ihr gefragt, ein paar Stunden später in ihrem Zimmer. Sein Besuch war ihr lieb. Das Alleinsein wurde unerträglich, und doch mochte sie nicht daran denken, unter Menschen zu gehen. Der Graf ward von ihrem Anblicke frappirt. Er hatte eine Laune vermuthet und sah nun in dem gleichsam zerwühlten, gealterten Gesichte die Spuren wirklichen Leidens.

„Doch nicht ernstlich unwohl, Thea?“ fragte er besorgt, indem er sich neben ihr niederließ. „Ich kam, über Wichtiges mit Dir zu sprechen – vielleicht ist es Dir jedoch lieber, wenn das aufgeschoben bleibt?“

Jähe Glut flammte in ihrem Gesichte auf. Sie schüttelte stumm den Kopf und sah ihn erwartend an.

Mattern nahm Position. „Was wir heute zu besprechen haben, liebes Kind,“ sagte er mit einiger Emphase, „das zähle ich zu den größten Freuden meines Lebens. Sandor hat mir diesen Morgen mitgetheilt, daß er Dir seine Hand angeboten, Du aber seiner Werbung noch keine Zusage gegeben. Ich konnte ihn hierüber beruhigen – er schien sich nämlich Dein heutiges Zurückziehen zum Nachtheil auszulegen –, solche Scrupel macht sich nur die Leidenschaft. Für mich, wie für Jeden, der Dich in Stephan’s Gesellschaft gesehen, bleibt über Deine Entscheidung kein Zweifel möglich. Laß mich also der Erste sein, liebste Thea, Dir zu einer Zukunft Glück zu wünschen, welche meine kühnsten Hoffnungen für Dich überflügelt.“

Thea’s Wange wurde fahl. Sie schüttelte heftig den Kopf und versuchte zu antworten, doch erstarb der Laut an dem wilden Schlage ihres Herzens. Endlich sprach sie mühsam:

„Sie wissen, daß ich nicht frei bin.“

Der Graf machte mit eigenthümlichem Lächeln eine leichte Handbewegung. „Was soll uns diese Kinderei!“ sagte er nachlässig. „Nachdem Du selbst die Sache hattest fallen lassen, glaubte ich sie abgethan.“

„Abgetan? Ich sagte Ihnen damals, daß Ernst Wernick mein Wort hat, und Sie kennen mich nicht erst von heute.“

Mattern kannte Thea in der That und lenkte ein. „Gut,“ sagte er kühl, „dieser junge Mann hatte Dein Wort, Du aber hattest auch das meinige, und Eines hob das Andere auf. Kraft des Rechtes, das mir von meiner seligen Frau überkommen und das ich selbst mir auf Dich erworben habe, versagte ich meine Zustimmung zu dieser für Dich ganz ungeeigneten Verbindung schon vor zwei Jahren und werde sie stets versagen. Allerdings habe ich keine anderen Rechte auf Dich, als moralische, und verharrst Du eigensinnig bei dieser Thorheit, so kann ich Dich nicht verhindern, Deinem Unheil zu folgen. Nie aber werde ich die Hand dazu bieten, es Dir erreichbar zu machen. Ich kenne Dich besser, Thea, als Du Dich selbst kennst. Der Mann, dem Du zu jener Zeit, als Du noch unfähig warst, zu wählen und zu urtheilen, Dein Kinderwort gegeben, paßt in keiner Weise für Dich. Anlage, Erziehung, Lebensgewohnheiten – Alles trennt Euch.“

„Mir graut,“ fuhr er nach einer Pause fort, „wenn ich mir Deine Zukunft ausmale, wie Du sie Dir aufzubauen dachtest – enge, bürgerliche Verhältnisse im beschränktesten Sinne, und, um solches Ziel überhaupt zu erreichen, noch Jahre des Wartens, an denen Deine Jugend verblüht und die von Deiner augenblicklichen Romantik nichts, gar nichts übrig lassen werden. Willst Du behaupten, daß Du Stephan gegenüber kalt geblieben? Behauptest Du’s, Thea, so wäre ich stark versucht, der Kokette den Rücken zu wenden. Der edle Mann aber, den Du in volle Leidenschaft hineingetäuscht, empfinge das Recht, Dich zu verachten. Aber dem ist nicht also. Nieder mit kleinlichen Bedenken – ich gebe Dir Alles zu, allein über Einen von Beiden mußt Du hinwegschreiten, wie die Dinge heute stehen. Denke der Zukunft, welche Dich an Stephan’s Seite erwartet! Als Gattin dieses Mannes kannst Du sein, was ich in Dir erzogen. Seine großen Güter bieten überdies Deinem energischen Thätigkeitsbedürfniß weiten Spielraum. Er selbst ist einer der ausgezeichnetsten Männer; der Platz an seiner Seite wird Dir von den Besten Deines Geschlechts beneidet werden. Wirf muthig hinter Dich, was doch nur noch ein abgestorbener Zweig ist! Das Gegentheil wäre klägliche Feigheit, denn glücklich machst Du den Andern – jetzt wahrlich nicht mehr.“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Messenhandel. In der St. Lorenzkirche zu Rom befindet sich ein Altar, mit ganz besonderm Vorrecht ausgestattet. Durch jede an diesem Altar auf gläubige Bestellung hin gelesene Messe wird nämlich nach päpstlicher Bestimmung irgend eine „arme Seele“, die der Meßspender nennen mag, schnurstracks von den zeitlichen Qualen des Fegefeuers erlöst und in die ewigen Freuden des Himmels hinübergeführt. Für den Fall, daß benannte Seele durch glücklichen Zufall, was man nicht wissen kann, den Reinigungsort schon verlassen hätte, wäre der „liebe Herrgott“ genöthigt, eine andere Seele für das Paradies auszuwählen; denn die Messe ist zu packend, zu kräftig: eine Erlösung muß stattfinden. Eine so außerordentliche Messe kann natürlich für gewöhnlichen Preis nicht gelesen werden. Sie gilt und kostet auch mehr. Fester Preis: 1 Ducaten, gleich 5 Franken oder 1 Thaler 10 Silbergroschen.

Unter so lockenden Umständen mag es nicht auffallen, daß der Messenhandel am bevorzugten Altar in der St. Lorenzkirche zu Rom kein geringer ist. Daher ist auch der Andrang des Publicums zum Besten „lieber Abgeschiedener“ so groß, daß oft Restanzen in Messen bleiben, die außerordentliche Deckungsmittel erfordern.

Eine solche Restanz war es, als in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts eines schönen Morgens achttausend Ducaten glänzend im Sparhafen der St. Lorenzkirche lagen für achttausend Messen, die für achttausend arme Seelen gelesen sein sollten und noch nicht gelesen waren. Die Mönche nämlich, denen hier das Meßgeschäft oblag, waren an Zahl zu gering, um den massenhaften Bestellungen entsprechen zu können, und an Geiz zu schwer, um so gut bezahlte Messen auch nur aushilfsweise anderen Priestern gegen entsprechenden Rabatt abzutreten. Aus solcher Bedrängniß konnte nur der Papst als „Herr aller Seelen im Fegefeuer“ retten. Daher veranlassten die armen Mönche ihren Prior, zum Papste zu gehen und um die Ermächtigung zu bitten, die achttausend Messen in einer abfertigen, beziehungsweise achttausend Seelen gegebenen Falls durch eine Messe vom Fegefeuer befreien zu dürfen.

Gesagt, gethan. Der Prior begab sich eines Tages zum Papste, erzählte den Nothfall, bat um besagte Ermächtigung und betonte namentlich, daß es ihm schrecklich sei, die achttausend armen Seelen, die schon erlöst sein sollten, noch immer in dem Qualme des Fegefeuers zu wissen, wenn sie nicht durch glücklichen Zufall schon erlöst wären; aber auch dann hätten andere achttausend Seelen ein Anrecht auf Erlösung. …

Der Papst ließ ihn ausreden. Dann tadelte er scharf die fahrlässige Gleichgültigkeit der Mönche, besonders weil es sich hier nicht um ihre eigenen, sondern um die Interessen gläubiger Söhne der Kirche und armer Seelen handle. Doch ließ sich der Papst die Bittschrift überreichen, las und unterzeichnete die Ermächtigung. Der Prior, außer sich fast vor

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