Seite:Die Gartenlaube (1873) 792.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Zur Feier der beiden Ehrentage, des 27. November, an welchem Bödeker vor fünfzig Jahren zum Collaborator an der Marktkirche gewählt, und des 15. Januar 1874, an welchem Tage er in sein Amt eingeführt wurde, haben sämmtliche Prediger und Kirchenvorsteher Hannovers einen allgemeinen Aufruf erlassen, welcher zu Beisteuern zu einem Festgeschenk im Geiste des Jubilars auffordert; der Zweck desselben ist, das Schwesternhaus, welches Bödeker im Jahre 1848 für fünfzig alte bürgerliche Damen mit vierzigtausend Thalern gestiftet, von den noch darauf haftenden Schulden (zwanzigtausend Thaler), für deren Tilgung der greise Senior noch alljährlich von Haus zu Haus wandert, möglichst zu befreien und dadurch den Fortbestand dieser wohlthätigen Anstalt für immer zu sichern.

Dieser Feier schließt sich auch die Gartenlaube an, indem sie den ehrwürdigen Mann auf diesem alljährlichen Sammelgang und damit zugleich in seiner beneidenswerthen Würde als „Reichsfechtmeister“ bildlich darstellt.

Der Artikel zum Portrait Bödeker’s, mit welchem Dr. Wilhelm Schröder vor zehn Jahren[1] das „Genie im Wohltun“ der großen Gartenlaubengemeinde vorstellte, bringt uns den ganzen Mann als Menschen, Theologen und Bürger so klar und vollständig zur Anschauung, daß es heute fast genügen könnte, einfach darauf hinzuweisen. Da kommt nun aber der Jubilar selbst und läßt uns in sein Leben zurückblicken bis in die Tage der Kindheit und hebt den Vorhang vor einer Reihe stiller Thaten des Herzens, so daß wir seine Jubelschrift doch nicht unbenutzt lassen dürfen. Wenn freilich Manches von Dem, was wir hier mittheilen, durch die Tageszeitungen früher den Weg zu unseren Lesern findet, als diese Nummer der Gartenlaube, so dürfen sie dazu nicht scheel sehen; sie haben wenigstens den Vortheil, Das dauernd zu besitzen, was in der Tagespresse nur rasch an ihnen vorübereilt.

Wie bei so vielen hervorragenden Männern begegnen wir auch bei Bödeker der erhebenden Erscheinung, daß seine ersten und liebsten Erinnerungen sich an seine Mutter knüpfen und deren zum Theil recht originelle Erziehungsmethoden. Sehr eigenthümlich zum Exempel war das mütterliche Verfahren gegen unbegründete üble Laune. „Mürrische Kinder sind krank, und kranke Kinder müssen Arznei haben,“ hieß es, und so wurde eine Medicinflasche mit großer Etiquette aus der Anrichte geholt, in welcher sich ein Gemisch von Lakritzen, Wienerwasser, Kamillen und Krauseminze befand. Wohl oder übel mußte ein Löffel voll hinabgeschluckt und zu Bett gegangen werden – und ohne Grund stellte sich niemals wieder üble Laune ein. Ein noch schärferes Mittel wehrte der Naschhaftigkeit, die allerdings bei neun eigenen (sechs Knaben und drei Mädchen) und fünf Kostkindern des Hauses gründlich curirt werden mußte. Waren etwa Kirschen, Erdbeeren oder dergleichen abhanden gekommen und sämmtliche junge Mäuler hatten sich für unschuldig erklärt, so befahl die Mutter, die Brechweinflasche herbeizuholen und Jedem einen Eßlöffel voll zu verabreichen. Da war’s denn sicher, daß der Uebelthäter alsbald hervortrat, um freiwillig sich und die Genossen vor dieser Procedur zu schützen.

Auch diejenige Eigenschaft, welche den Mann zu dem großen Wohlthäter machte, als den wir ihn verehren, die Herzensgüte, führt der treue Sohn auf die unvergeßliche Mutter zurück, weil sie den Keim in der Kinderbrust so schön zu pflegen verstanden. „Zu dieser Herzensgüte,“ erzählt er, „glaube ich eben so sehr erzogen worden zu sein, wie ich sie als Erbschaft überkommen habe; denn oft, wenn ich als fünfjähriger Knabe Mittags zwölf Uhr mich an den Tisch stellte – bis zum neunten oder zehnten Jahre erhielten wir nicht den Brettstuhl der Erwachsenen – und das Gebet gesprochen war, sagte die Mutter: ‚Hermann, während Dein Essen sich abkühlt, kannst Du der Hirtenfrau Kabermann etwas zu essen bringen.‘ Der Mann war als Kuhhirt seit fünf Uhr nach der Weide und die Frau lag lahm im Bette. Ich holte also den blauen irdenen Henkeltopf aus der Küche, ließ einfüllen und wanderte zu der Kranken, wo ich mich noch erinnere, daß ich mich auf die Fußspitzen stellen mußte, um die hölzerne Thürklinke zu heben und in die Wohnstube zu gelangen.“ Es gehört wohl auch hierher, daß er, schon Secundaner des Rathsgymnasiums zu Osnabrück, seiner Vaterstadt, monatelang einer bettlägerigen alten Magd der Familie regelmäßig nach der Nachmittagsschule in ihrer Leidenskammer eine Stunde lang vorlas – Alles zur Freude seiner guten Mutter.

Aber auch vom Vater erbte er unschätzbare Seelengüter. Herr Johann Jacob Bödeker, Succentor (Gehülfe des Cantors) und erster Lehrer zu St. Katharinen in Osnabrück, war ein Mann von dreiunddreißig Jahren, als ihm seine Gattin, Maria Elisabeth, des Tabaksfabrikanten Russel Tochter, am fünfzehnten Mai 1799 als drittes Kind den Hermann gebar, und dieser preist es ihm noch in seiner goldenen Jubelschrift nach, daß er dem Vater die ihm eigenthümliche Energie und den sehr werthvollen Humor verdanke. Von beiden erzählt Bödeker hübsche Proben, u. A.: „Als Anno 1808 seine mit achtzig Kindern überkommene Schule sich auf hundertundfünfzig vermehrt hatte und ein größeres Local nöthig wurde, schaffte er trotz der Kriegszeit und bei natürlichem Mangel magistratlicher Hülfe binnen vier Wochen zweitausend Thaler an und baute selbst das jetzt noch bestehende große Schulhaus. Zu dessen Einweihung bat er sich in einer Sitzung des Magistrats und der Geistlichkeit Posaunenbegleitung aus. Der Superintendent meinte, das sei sehr theatralisch, der Bürgermeister aber genehmigte den Wunsch des Schulhalters wegen der bei der Sache angewandten Mühe – und die Stadtpfeifer wurden befohlen.“ Wegen seines durchfahrenden Wesens nannte man ihn den „Bonaparte“; der Superintendent sagte freilich einmal: „Der Schulmeister ist ein grober Kerl!“ – aber doch hielt er ihn so hoch, daß er oft den Wunsch aussprach: „Ich wollte, daß alle meine sechs Söhne (jedenfalls solche) Schulmeister würden!“

Wiederum einen Blick in die häuslichen Sitten jener Zeit eröffnet es, wenn wir erfahren, daß Bödeker erst, als er am 21. October 1817 die Universität Göttingen bezog, zum ersten Male mit Socken ausgerüstet wurde, weil „diese so wenig wie Halstücher, Handschuhe und Mützen in unserem Stande während der Knabenjahre getragen wurden“. Am Abende zuvor hatte er seinen Vater die Hand darauf geben müssen, sich nicht eher zu verloben, als bis er Pastor wäre.

Bödeker hatte sich als Jüngling auch körperlich tüchtig ausgebildet, namentlich Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Schießen, Tanzen, aber auch Satteln und Säumen gelernt, denn Reiten war seine Lieblingspassion. Noch als Student kaufte er sich von seinen Ersparnissen ein Pferd für zehn Thaler, ja, er gesteht sogar, daß vielleicht die dunkle Vorstellung, daß er als Landpfarrer ein Ackerpferd auch als Reitpferd würde halten können, ihn zur Wahl des geistlichen Amtes bestimmt habe. Eine solche Landpfarrei aber war nichts weniger, als das Ziel des Vaters für den Sohn; verwies er es doch der demüthigen Mutter, wenn sie nur von ihren künftigen Besuchen auf einer „Landpfarre“ sprach; „ein schlechter Corporal,“ pflegte er dann zu sagen, „der nicht denkt General zu werden!“ – und zu der Mutter gewandt sagte er in damals auch in gebildeten Familien noch gebräuchlichem Plattdeutsch: „Worüm sall he nich Stadtpastor weren können?“

Und er wurde es; aber selbst zur Concurrenzpredigt um das Collaboratoramt an der Marktkirche in Hannover am 19. November 1823 ritt er, und zwar auf seiner für fünfzehn Thaler gekauften hellbraunen Stute. Bei Northeim kam er an einem Acker vorbei, auf welchem ein Bauer pflügte. Er bot ihm die Tageszeit und veranlaßte ihn dadurch, sich zu ihm hinzuwenden. „Liese! Liese! Bist du’s denn?“ rief der Mann plötzlich, ebenso froh überrascht, als gerührt. Und richtig! Die Liese wieherte, legte den Kopf auf seine Schulter und ließ sich liebkosen. Er hatte den Mann angetroffen, der mit der späterhin als „Absetzer“ verkauften Liese den französischen Feldzug durchgemacht und sie auch in der Schlacht von Waterloo als hannoverscher Husar geritten hatte. „Wie wir uns da alle Drei gefreut haben!“ setzt Bödeker selbst gerührt hinzu.

Mit der selbstständigen Stellung als Stadtpastor, zu welchem er schon im März 1825 erhoben wurde, beginnt Bödeker’s selbstgewählter Beruf als Wohlthäter seiner Mitmenschen in und außerhalb seiner Gemeinde. Wie er sich die Lebensfrische erhalten, die den greisen Mann noch heute beglückt, haben wir in der Anmerkung zu unserm Artikel von 1863, Seite 110, bereits erzählt. Bödeker schreibt letztern Gewinn seinen tagtäglichen Morgenpromenaden zum Frühstück im Kaffeehause zum Listerthurme

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_792.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)