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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

von Tag zu Tag verlor sie dabei an jener Lauterkeit des innersten Wesens, die in der Heimath so duftend emporgestiegen war. Thea selbst empfand dies nur zu oft. Dann überfiel sie ein Heimweh, eine Verlassenheit, die sie in trostlose Stimmungen stürzte; dann flüchtete sie zu den Briefen, die, ihrem Bruder geschrieben, ihr zugedacht, regelmäßig den Weg zu ihr fanden, und badete darin ihre Seele wieder rein. Ernst lebte in ihrem Gemüth als Urbild alles Edeln und Hohen. Er stand ihr an der Stelle der Gottheit, zu der sie längst verlernt hatte den Weg zu finden. Diesem schwärmerisch geliebten Bilde gegenüber erschrak sie dann vor sich selbst. Eine Ahnung überkam sie, als wäre sie seiner nicht werth; sein unbeugsam reiner Sinn, der Alles verschmähte, was ihm zu klein und niedrig für sein wahres Sein erschien, zeigte ihr das eigene Spielen mit der bunten Welt, in der sie lebte, oft in vernichtender Beleuchtung. Noch hatte sie nicht mit dem Grafen gesprochen – anfangs warnte sie davor nur ein banges Befürchten des Mißerfolges; später zögerte sie freiwillig hin, was ihr im Wirbel der vielbewegten Tage nicht am Platze schien, und sagte sich, im Sommer, auf dem Lande würde sie bei ihrem Pflegevater bessere Stimmung für solche Mittheilung finden. Ein äußerer Anlaß sollte gelegentlich zur Sprache bringen, was Thea vor Monaten so stürmisch zu erzwingen gedacht.

Einer der jungen Männer, welche im gräflichen Hause verkehrten, ein wohlhabender Officier von angesehener bürgerlicher Familie, hielt um ihre Hand an, und Graf Hugo machte seinen Freiwerber. Wie sehr sie ihrer Sache geschadet, indem sie nicht dem ersten Herzensinstinct gefolgt und ihrem Pflegevater gleich nach dem Wiedersehen den geschlossenen Bund anvertraut, hatte Thea nun zu empfinden. All’ ihren Worten zum Trotz behandelte Graf Hugo das Geständniß, welches sie ihm ablegte, ganz obenhin als bloße Kinderei, die von ihren eigenen Eltern richtig taxirt worden sei, und als Thea ihm mit leidenschaftlichem Nachdrucke erklärte, sie betrachte sich als Braut und würde nie einem andern Manne die Hand reichen, erwiderte er ihr scharf und trocken, daß er seinerseits zu einer so unpassenden Partie weder seine Zustimmung geben, noch je dazu beitragen würde, solche Heirath möglich zu machen.

Diese Unterredung, dieses Beanspruchen von Rechten, welche Thea dem Grafen keineswegs zugestand, regte ihr Selbstgefühl zugleich mit ihrer Liebe leidenschaftlich auf. Alles, was sie äußerlich umsponnen hatte, wich vor den Forderungen ihrer innersten, groß angelegten Natur zurück. Sich unabhängig zu stellen, um ihre Liebe mutig zu kämpfen, sei es auch in der Gestalt, die ihrem Naturell am schwersten zu erfassen war – des Wartens und Schweigens, erschien ihr allein möglich. Sie schrieb ihrem Vater und öffnete ihm ihr ganzes Herz mit all’ seinen Schwächen, in all’ seiner Kraft. Schonungslos klagte sie sich selbst des Einflusses an, den der Cultus der Eitelkeit auf ihr Sein und Wesen geübt, und bat, sie heimzurufen, damit sie wieder gesunde.

Die Antwort auf diesen Brief blieb lange aus. Als sie endlich kam, war sie ein Donnerschlag. Der Vater, an dessen liebevolles Herz sie sich geflüchtet, hatte die Worte seines Kindes nicht mehr vernommen. Auf einer Dienstreise schwer erkrankt, hatte der Rath sein Haus nur erreicht, um dort die Augen für immer zu schließen.

Thea stand wie erstarrt vor dem ungeahnten Geschicke. Daß sie begehrte, sofort zu den Ihrigen zu reisen, fand keine Widerrede; die Gräfin selbst zeigte sich theilnehmend und bestand darauf, ihre eigene Kammerfrau als Begleiterin bis zur letzten Tagesstation mitzugeben. Thea widersprach in nichts. Sie verlangte nur nach Hause, mit dem dumpfen Gefühl, daß ihr starres Empfinden dort allein sich in Thränen lösen könnte.

Ja, Thränen flossen ohne Ende in dem Hause der Trostlosigkeit. Sophiens stets so frische Kraft schien gebrochen. Es war, als sei mit dem Hausvater der bindende Reif gefallen, der alles Leben der Seinen gehalten, als stürze nun Alles und Jedes zusammen. Nicht der männliche liebevolle Geist allein, auch die nährende Hand war dahin, und rathlos erschien die Zukunft. An der völligen Vernichtung, welche die Mutter gleichsam lähmte, stärkte sich Kraft und Wille der beiden ältesten Geschwister. Dora fand hier den Schwerpunkt wieder, der ihr während des letzten Jahres abhanden gekommen war. Sie übersah klar, was geschehen mußte, und daß es an ihr sei, Das, was vor Kurzem noch Gefahr und Versuchung gewesen, nun zum Opfer zu heiligen.

Sie schrieb zum erstenmale an Ernst – keinen Liebesbrief, wie das bräutliche Herz ihn in Gedanken tausendmal geschrieben. Mit voller Offenheit bekannte sie dem Geliebten Alles, was in ihr, was um sie her vorgegangen, legte ihm die gegenwärtigen Verhältnisse und was sie selbst zu tun gesonnen, dar und forderte seine Entscheidung.

Er brachte die Antwort selbst und brachte damit Trost in’s Haus, in all die leidvollen Herzen. Erst jetzt empfand Dora ganz, was er ihr war. Selbst wenn er nicht in ihrer Nähe, wenn sie aus dem anstoßenden Raume seine Stimme vernahm, einen Schimmer seiner Gestalt sah, erschauerte in ihr ein süßes Gefühl, das Trauer und Thränen in unbewußtes Lächeln verwandelte – wie Nebelbilder glitten dann vielfache Gestalten, die ihr begegnet, die sich ihr zu nähern versucht, an dem träumenden Sinn vorüber – wesenlos! Er war der Eine, der Einzige. Alles, was echt, was gut in ihr war, hob sich wie auf Schwingen, gehörte ihm allein. Ihr ganzes Innere blühte, duftete, strömte dem Geliebten entgegen – ihr war, als habe sie nicht nur ihn, als habe sie sich selbst wiedergefunden nach langer Entbehrung, langer Verbannung. An seiner Seite sitzen oder schreiten, in das tiefe, stille Auge blicken, ihren Namen mit dem Klang nennen hören, der nur der Liebe eigen, war Seligkeit.

Ernst betrachtete sich von dem einst dem Hingeschiedenen gegebenen Worte frei; wie die Verhältnisse heute lagen, durfte er den Verlassenen eine moralische Stütze für die Gegenwart, ein Halt für die Zukunft sein. Er besprach mit Dora und Robert, was zu thun möglich, und sie legten der armen, noch immer stumpf hinbrütenden Mutter bestimmt gefaßte Vorschläge zur Erwägung und Entscheidung vor, denen sie nicht nur ihre Zustimmung gab, sondern woran sogar ein Funke ihrer alten Energie wieder aufzuleben schien. Der Gedanke, daß sie mit den Kindern in ihre Vaterstadt übersiedeln und dort mit Beistand ihrer Verwandten eine Arbeitsschule für Mädchen gründen möchte, erschien ihr ausführbar. Die Summe, welche vom Grafen Mattern alljährlich als Zins des niedergelegten Capitals zu Dora’s Gunsten an Rostans gesandt wurde, sollte verwandt werden, um Robert’s bevorstehende Universitätsjahre zu ermöglichen, für welche Ernst ein Zusammenleben mit ihm anbot. Dessen eigenes Doctorexamen war bereits abgelegt; in drei, längstens vier Jahren hoffte er sein nächstes Ziel zu erreichen, als Privatdocent habilitirt zu sein und eine auskömmliche Existenz erreicht zu haben. Bis dahin mußte Dora im Hause des Grafen ausharren. Ernst gelobte der Mutter, daß er die Stellung seiner Braut zu ihrem Pflegevater durch keine Unvorsichtigkeit gefährden und das Geheimniß wahren würde, bis er in der Lage sei, als selbstständiger Mann ihre Hand zu begehren.

Die Liebenden tauschten Ring und Gelübde.

(Fortsetzung folgt.)



Eine wunderbare Werkstätte der Naturforschung.

„In das Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist,“ so lautet das bekannte, vielcitirte und für Viele so bequeme und so tröstliche geflügelte Wort – und doch wie weit ist dieser Geist schon eingedrungen in das Zauberreich der Alles belebenden Naturkräfte, wie hoch hat er sich rechnend und messend aufgeschwungen zu den leuchtenden und kreisenden Welten über uns, und wie tief ist er zugleich mit der Schärfe des Gedankens hinabgedrungen in die dunklen Tiefen und bis in das feurige Innere des Erdballes!

Mit Recht ergreift stets Bewunderung und Ehrfurcht die staunende Menge angesichts der an’s Zauberhafte grenzenden Resultate der Wissenschaft, wenn der Astronom mit wahrhaft peinlicher Genauigkeit auf Decennien und Jahrhunderte hinaus Minute und Secunde des Eintrittes einer Mond- oder Sonnenfinsterniß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_774.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)