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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 48.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Das Bild ohne Gnade.

Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)


5.

Daheim! – Als Thea zum ersten Male wieder im Vaterhause die Augen aufschlug, umfing sie ein wundersamer Zauber. Noch halb von Träumen befangen, die ihr den Pont royal gezeigt, ließ sie den Blick über das kleine Giebelzimmer schweifen, das sie kannte, soweit ihre Gedanken zurückreichten, wo ihr stets gebettet worden, so oft sie zum Besuch in die Heimath kam. Wie vertraut war ihr Alles! Die Wände mit den alterthümlichen Tapeten, deren gemalte Laubgänge das Zimmer zu erweitern schienen, die geschweifte Kommode mit Bronzebeschlägen, welche die Mutter einst zwischen altem Gerümpel auf dem Boden gefunden und restauriren lassen, der Spiegel darüber mit seiner Einrahmung von Spiegelglas, in welche Maiblumensträuße eingeschliffen waren – Alles heimelte sie an, und ein Gefühl kam plötzlich über sie, süß und weich wie Frühlingswehen. Erinnerung berührte sie mit heiliger Hand; das alte Kinderherz wachte auf. Den schönen Kopf auf den Arm gestützt, blickte sie mit leuchtenden Augen umher. Alles, was ihr einst lieb gewesen, war von der Liebe zusammen getragen worden, um das Kind des Hauses zu erfreuen. Dort hing, ihrem Bett gegenüber, der alte Kupferstich – Romeo und Julia auf dem Balle – den sie stets so gerne angeschaut, darüber ihr eigener Namenszug, aus den ersten Frühlingsblüthen und jungem Laub gewunden. Neben dem Seitentischchen die Hänge-Etagère mit all den Sächelchen, den Schätzen aus der Kinderzeit, die von der Mutter sorgsam bewahrt worden, nachdem die kleine Besitzerin in die Ferne gezogen.

Die Augen des jungen Mädchens wurden feucht. Alles, was während der letzten Jahre so bunt an ihr vorübergezogen, versank; sie besann sich auf nichts mehr, was nicht Heimath hieß. Da tönte eine Choralmelodie an ihr Ohr – das Glockenspiel der Katharinenkirche. Wie ein Kind sprang Thea von ihrem Lager hinab, warf ein Morgenkleid über, schlüpfte mit den bloßen Füßchen in die weichen Schuhe und eilte ans Fenster. Als sie den Laden zurückschlug, drang die Sonne mit vollem heiterem Strahl herein und tauchte draußen Alles in ihr goldenes Licht. Es hüpfte in blendenden Funken über die Radaune hin und lag in breitem Streif auf der noch menschenleeren Brücke. Zur Rechten ruhte, von den alten, wohlbekannten Bäumen umschattet, die große Mühle still auf der malerischen kleinen Insel, dahinter hob sich der vierkantige Thurm mit dem zierlichen Aufsatze, von dem der letzte Ton des Glockenspieles eben verhallte.

Daheim! – Eine Sehnsucht, die lange geschlummert, auf welche sie sich im letzten Jahre kaum mehr besonnen hatte, kam über sie – Sehnsucht nach der Stimme, den Augen der Ihren! Sie ordnete rasch ihr Haar, ihren Anzug und eilte hinab. Alles grüßte, die Treppe mit dem gedunkelten Eichengeländer, die schwere, in leisen Angeln gehende Thür, welche beide Stockwerke schied, drunten im geräumigen Flur die bis zur Decke reichenden braunen Leinenschränke und über den drei Zimmereingängen wohlvertraute, vergilbte Kupferstiche in schwarzer Holzumrahmung. Durch die mittelste Thür klang fröhliches Pfeifen, und als Thea öffnete, prallte Robert zurück, um sie sofort mit einem lauten „Bravo!“ in den Arm zu nehmen. Schon saßen die drei kleinen Schwestern um den gedeckten Frühstückstisch, auf dem heute ein Maiblumenstrauß und ein großer Napfkuchen prangte.

„Dir zu Ehren, Dora! Die Mutter hat ihn gestern selbst gebacken,“ vertraute ihr die jüngste der Schwestern, während die ihr entgegenrannte und gleich nach dieser Eröffnung das frische Gesichtchen schämig versteckte.

Thea sah sich um; mehr und mehr war ihr, als erwache sie aus Träumen zum lichten Tage. Ja dort in der Ecke stand noch der alte Sorgenstuhl, in welchem sie als Kind so gerne zur Dämmerzeit gekauert, wenn Robert, der daneben auf dem Schemel hockte, selbsterfundene Märchen erzählte. Leichten Fußes eilte sie hin und rollte ihn zum Tische an den Platz des Vaters, der sich heiter gefallen ließ, darin eingeheimst zu werden. Frau Sophie erschien mit dem Kaffee. Ihr immer noch hübsches Gesicht lächelte aus dem frischen Morgenhäubchen auf die volle Zahl der Ihren, die sie endlich wieder am eigenen Herde vereint sah. Mutterstolz lächelte ihr aus den Augen, so oft sie ihre schöne Tochter anblickte, so oft ein Wort Thea’s mit der Gedankenschnelle und glücklichen Ausdrucksform, die dem jungen Mädchen eigen war, ihr überraschend erklang. Ein unerhörter Bruch aller Gewohnheiten geschah – die unermüdlich schaffende Hausfrau saß heute eine volle Stunde am Frühstückstisch, bis die nahe Schulstunde den Familienkreis zersprengte. Nun gehörte das heimgekehrte Kind des Hauses ganz ihrem Vater, und wie in traulichem Zwiegespräche Frage und Wort sich aneinander reihten, stiegen auch wieder die Gestalten und Bilder der jüngsten Vergangenheit vor Thea auf – doch schien ihr Alles, was sie erfahren und gelernt, heute in weiter Ferne zurückzuliegen.

Dora – so hörte sie sich wieder rufen, und so gewöhnte sich ihr Ohr und Herz zu hören – fand sich zu ihrer eigenen Ueberraschung im Elternhause dauernd wohl, obwohl den geistigen Elementen, welche ihr zum Bedürfniß geworden, wenig Nahrung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_771.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)