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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 47.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Bild ohne Gnade.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)
2. Dora.

In die Heimath zurückgekehrt, fand sich viel Arbeit des Lebens vor, die mich nach verschiedener Richtung hin in Anspruch nahm; doch kehrte der Gedanke oft genug und mit mancher stillen Frage zur jüngsten Vergangenheit zurück. Holms schrieben von Zeit zu Zeit. Ihre Briefe lösten aber das Räthsel, welches mir dort entgegengetreten, in keiner Weise. Wenige Tage nach meiner Abreise hatten auch Matterns Zoppot verlassen, und Wernick hatte ungefähr um die gleiche Zeit mit Berg die Weiterreise nach Stralsund und Rügen unternommen, von wo aus Beide an ihre Berufsorte zurückkehren wollten.

Ein Jahr verging und darüber. Die Gestalten, deren Geschicke mich so lebhaft beschäftigt, lebten in meinen Gedanken fort, ohne jedoch durch irgend einen Ton in Gegenwart oder Zukunft hineinzuklingen, als mir eines Tages ein von fremder Hand adressirtes Paket zuging. Der erste Blick auf das Briefblatt, welches obenauf lag, ergriff mich tief. Thea’s Geschick hatte sich erfüllt.

Die einzelnen Töne, welche mir aus den zahlreichen Briefen und Tagebuchblättern, welche das Päckchen umschloß, entgegenklangen, gestalteten sich zum vollen Accord eines Lebensschicksals, dessen seltsamen, jetzt abgeschlossenen Gang die folgenden Blätter entrollen.



Auf der Rampe eines schönen Giebelhauses in Danzig saßen gegen Abend zwei Frauen im Gespräch. Die Aeltere, eine feingebaute Erscheinung mit zarten, etwas leidenden Zügen, folgte mit Interesse der Mittheilung ihrer Gefährtin, deren heitere Augen dem ernsten Ausdruck ihres Gesichts zu widersprechen schienen.

„Viel Sorgen, ja, und doch, wie glücklich bist Du!“ sagte die Zuhörende. „Dürften wir tauschen, gern nähme ich all Deine Nöthe auf mich, um nur eines der Kinder zu besitzen, deren Dir so viele erblüht sind.“

Ihr schwermüthiger Blick streifte nach der Brustwehr, welche den Vorbau des Hauses von der Straße schied, und haftete auf einer durch sich selbst sowohl, wie durch ihre Umgebung malerischen Gruppe. Auf den Platten der Rampe kauerte ein blühender Krauskopf von etwa sechs Jahren und reichte der wenig älteren Schwester Kornblumen zu, welche sie zum Kranze band. Die kleine saß auf der obersten Stufe der Freitreppe, deren mit Sculpturen geschmückter Aufgang dem holden Bilde gleichsam einen künstlerischen Rahmen gab; ihr mit Halmen und Blumen gefülltes Strohhütchen hing mit flatterndem Bande am Kopfe eines vor Zeiten in Venetien gemeißelten Löwen. Des Kindes dunkles Gelock regte sich leicht im Winde und hüllte auf Momente ihre freie Stirn, die strahlenden Augen ein.

Durch den Blick der Freundin aufmerksam gemacht, ward die Mutter selbst von dieser Anmuth betroffen und rief unwillkürlich mit zärtlicherem Laut als sonst: „Dora!“

Die Kleine sprang auf wie eine Feder. Kranz und Blumen rollten ihr vom Schooße die Stufen hinab, und mit einem Jubelton, mit ausgebreiteten Armen lief sie zur Bank und fiel ihrer Mutter um den Hals.

„Aber Dora, wie bist Du wieder so wild! Du erwürgst mich ja – und Dein Kranz! Sieh, da liegt er im Straßenstaub. Immer Alles halb.“

„Immer Alles ganz!“ murmelte die Fremde, während Dora, vom Tadel der Mutter beschämt, still zur Treppe zurückschlich und die zerstreuten Blumen aufsammelte. Den feinen Kopf leicht gesenkt, schwieg die Frau; dann legte sie plötzlich ihre Hand auf den Ann der Freundin und sagte mit leiser Innigkeit, die dringender klang, als das lebhafteste Wort: „Gieb mir Deine Dora!“

„Wie?“ fragte die Mutter mit weitgeöffneten Augen.

„Gieb mir Dora!“ wiederholte die Fremde. „Es wäre ein Liebeswerk. Ich habe Dir vertraut, wie einsam ich bin, Sophie. Dir bleibt viel, so unendlich viel, wenn Du meiner Bitte nachgiebst. Ein Gatte, welcher Dir sympathisch, vier liebe Kinder noch. Ich spreche Dir nicht von den Sorgen, die Du mir noch eben bekanntest – das hat mit unserer Frage Nichts zu schaffen, aber giebst Du zu, daß Dora mein wird, so wäre dies von Einfluß, nicht für ihre Zukunft allein. Ich will sie nicht ganz an mich reißen, würde sie alljährlich zu Euch führen, damit ihr Eltern und Geschwister nicht fremd werden. Du wirst sie entbehren, Sophie, Du und Dein guter Mann – aber bedenkt Ihr, welche namenlose Wohlthat Ihr einer Frau erweist, die Euch ewig dafür danken würde, dann erscheint Euch solches Opfer doch vielleicht möglich.“

„Noch kann ich den Gedanken nicht fassen,“ stammelte Sophie, „und was wird Rostan sagen?“

„Daß Du dies fragst, giebt mir den Trost, daß Du den Gedanken dennoch gefaßt. Ich verlange, erbitte ja nicht augenblickliche Entscheidung. Keinen Raub möchte ich an Euch begehen zur Vergeltung Eurer Gastlichkeit, nur ein Band zwischen uns weben, das die alte Jugendfreundschaft zur unlöslichen Verbindung knüpft. Ich reise morgen, wie Du weißt. Sprich mit Deinem Manne erst, nachdem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_755.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)